- Literatur - Reiseblog

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Weißrussland
 
Eine Stadt zwischen allen Stühlen

 
Nachdem bei einer ursprünglich geschäftlich motivierten Reise nach Weißrussland alle dienstlichen Belange erledigt waren, konnten wir uns guten Gewissens dem kulturellen Teil widmen, denn bis zur geplanten Abreise aus Gomel blieb noch ein guter halber Tag, um die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt zu erkunden. Unser Fahrer war uns dabei ein unschätzbarer Helfer und belesener Reiseführer.

 
Da es sich an dieser Stelle gerade anbietet, seien hier noch ein paar Worte zu Gomel selbst gesagt. Gomel befindet sich im Süden Weißrusslands im Dreiländereck mit Russland und der Ukraine. Damit liegt es genau in jener Region, die Ende April 1986 am stärksten unter der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gelitten hat, weil die radioaktiven Niederschläge aufgrund der damaligen Wetterlage genau hier wieder auf die Erde trafen. Gomel ist heute die zweitgrößte Stadt des Landes und kann auf eine lange Geschichte zurückblicken.

 
1142 wurde es erstmals urkundlich erwähnt – damals als Besitz des Fürsten von Tschernigow. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte gehörte es mal zu Russland, dann zu Litauen und später zu Polen. Ab 1772 gehörte Gomel wieder zum Russischen Reich. Nach einer Schenkung durch Katharina die Große im Jahre 1775 war es im Besitz des Grafen Rumjanzew, dessen Söhne es 1834 an den Generalfeldmarschall Paskewitsch, Graf von Eriwan, verkauften. Bei beiden Adelshäusern handelte es sich übrigens um bedeutende Vertreter des russischen Adels. Davon zeugt allein schon ihre Aufnahme in das zweibändige Werk „Die Geschichte der Adelsgeschlechter Russlands“, das 1883 in Sankt Petersburg erschienen ist.

 
Mit diesem historischen Diskurs ist nun wieder der Bogen zu den Ereignissen unserer Reise geschlagen, denn nachdem alle Formalitäten geklärt waren, die uns nach Gomel geführt hatten, wollten wir uns unbedingt das dortige Palast- und Parkensemble ansehen, das sogar auf einer Karte verzeichnet war, die zu Werbezwecken in der weißrussischen Botschaft in Berlin ausgelegen hatte.

 
Dieses Architekturdenkmal war in der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von eben jenen Rumjanzews und Paskewitschs gebaut worden, und seit 1919 beherbergte der Palast ein Museum. Offiziell heißt es, die letzte Bewohnerin des Palastes, die noch bis 1923 gelebt hat, habe ihren Besitz freiwillig der Sowjetmacht übergeben, der Wahrheitsgehalt dieser Aussage darf jedoch angezweifelt werden.

 
Zum Zeitpunkt unseres Besuchs wurde der Palast komplett restauriert, der Südflügel mit dem weithin sichtbaren Uhrenturm war aber schon wieder begehbar und als Museum hergerichtet. Da bei Weitem nicht alle Einrichtungsstücke des Schlosses erhalten geblieben sind, konnte es natürlich nicht im Originalzustand wiederhergestellt werden, deshalb waren die Exponate in mehreren Etagen thematisch angeordnet worden. Das konnten wir allerdings mehr vermuten als wissen, da keines der Ausstellungsstücke beschriftet war. Der Grund dafür war ebenso simpel wie einleuchtend, wenn man sich das in Weißrussland herrschende System ins Gedächtnis ruft:

 
Der 3. Juli ist seit dem Zerfall der Sowjetunion der weißrussische Nationalfeiertag – zum Gedenken an die Befreiung vom deutschen Faschismus 1944. Der gerade fertiggestellte Teil des Museums sollte nun zu eben diesem Feiertag mit einer großen Zeremonie eröffnet werden. Da es mit den einzelnen Arbeiten zeitlich wohl etwas eng geworden war, hatte man die Aufschriften kurzerhand erst einmal weggelassen, um die feierliche Eröffnung nicht zu gefährden. Als wir nun den Palast besuchten, war seit der Eröffnung – die zur großen Erleichterung aller reibungslos vonstatten gegangen war – noch nicht einmal eine Woche vergangen, und man hatte es einfach noch nicht geschafft, die fehlenden Unterschriften anzubringen.

 
Ich muss zugeben: Wenn man daran gewöhnt ist, im Museum alles leicht verdaulich präsentiert zu bekommen, ist es schon von ganz neuem Reiz, so auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Man sieht sich die Exponate wesentlich intensiver an, um dahinter zu kommen, was sie eigentlich aussagen sollen.

 
Anschließend gingen wir im Park spazieren, der neben dem Museum auch noch ein voll funktionierendes Frauenkloster beherbergt. Es war ein eigenartiges Gefühl, in diesen ehemals sozialistischen Gefilden ältere und junge Nonnen an uns vorbeihuschen zu sehen. Wie gern hätte ich sie als Pendant zu dem Priester aus der Holzkirche in der Nähe unseres Hotels fotografiert, doch da ich sie nicht mit der Bitte um ihr Einverständnis stören wollte, verboten mir Takt und Anstand, das zu tun.

 
Sicher ist es schwierig, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Stadt immer noch in der Zone liegt, die zu den am stärksten radioaktiv verseuchten zählt, an Worte wie „Bummel“ und „gemütlich“ zu denken, zumal wir bei den meisten unserer Begegnungen in der einen oder anderen Form mit dieser Problematik konfrontiert wurden. Als Beispiel für den Umgang der Menschen mit diesem ständig latent vorhandenen Damoklesschwert, sei hier ein Satz angeführt, mit dem uns ein Maler auf die Frage antwortete, wie jemand, der seit siebzehn Jahren mit dem Wissen um die permanente radioaktive Gefahr lebte, idyllisch-impressionistische Landschaftsbilder malen könne, als sei die Natur noch intakt. Der Satz könnte als Sinnbild für den Überlebenswillen der ganzen Region stehen:

 
„Wenn man bei einem Autounfall ein Bein verloren hat, kann man danach auch nicht nur noch Einbeinige malen!“

 
Diese Einstellung war es, der wir bei unseren Aufenthalten im Süden Weißrusslands immer wieder begegneten und die vielleicht auch uns ab und zu für einen Moment vergessen ließ, dass die Folgen des größten anzunehmenden Unfalls eines Atomkraftwerks auch für die nächsten Generationen in dieser Region noch spürbar bleiben werden.

(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
 
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