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Weißrussland
 
 
Für die Durchreise eigentlich zu schade

 
 
Es war ein eigenartiges Gefühl, doch obwohl ich noch nie vorher in Minsk gewesen war, schien es mir, als wäre mir die Stadt schon seit Langem vertraut, und ich fühlte mich fast heimisch in ihr. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie einleuchtend: Die Architektur ehemals sowjetischer Innenstädte, die in den 50er-Jahren gestaltet wurden, unterscheidet sich nicht grundlegend voneinander. Die zu Unrecht so verpönte „Stalingotik“, die selbst im Ostteil Berlins damals Einzug gehalten hat, vereint architektonisch die Stadtzentren von Moskau, Kiew, Wolgograd und eben auch Minsk. Doch handelt es sich hierbei nicht etwa um eine Einheitsbauweise im Sinne des Plattenbaus – entstanden sind damals großzügige Boulevards mit Grünstreifen, Parks und sehr charakteristischen Gebäuden.

 
Ich erinnere mich noch gut an eine Stadtrundfahrt im Jahre 1997, bei der ich Bauarbeitern aus Weißrussland Berlin gezeigt habe. Als wir in die Karl-Marx-Allee einbogen, hörte ich hinter mir im Bus den Ausruf: „Mein Gott, das sieht ja aus wie bei uns zu Hause!“ Nun, da ich selbst auf dem Franzisk-Skorina-Prospekt in Minsk stand, wusste ich, was die Bauarbeiter gemeint hatten.

 
Dabei hat es die Stadt im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte wahrlich nicht leicht gehabt, sich zu behaupten: Bereits 1067 wurde sie erstmals urkundlich erwähnt und ist damit 80 Jahre älter als Moskau und 170 Jahre älter als Berlin. Zu jener Zeit war Minsk das Zentrum des Minsker Teilfürstentums. Innerhalb mehrerer Jahrhunderte mussten die Weißrussen ihre Unabhängigkeit immer wieder verteidigen: Die wohl schlimmste aller Okkupationen begann am 28. Juni 1941 und dauerte 1100 Tage. Von den 240.000 Einwohnern der Stadt kamen 70.000 ums Leben, die anderen mussten die Stadt verlassen. Als die Rote Armee am 3. Juli 1944 in Minsk einzog, hatten die Deutschen auf ihrem Rückzug die gesamte Stadt in Schutt und Asche gelegt. Nur ein einziges Haus war unversehrt geblieben.

 
Doch zurück zu der Atmosphäre, die uns umfing, und die ich schon fast fünfzehn Jahre lang verloren geglaubt hatte. Hierbei meine ich weniger die politische Gesamtsituation, die sich jedoch durchaus vergleichen lässt, wenn auch nicht mit dem Moskau der 80er-Jahre, so doch sicher mit den letzten Jahren der DDR. Bei aller politischen Kritikwürdigkeit war aber das Straßenbild damals – ebenso wie derzeit in Minsk – eher beschaulich.

 
Das sommerliche Wetter tat ein Übriges, um hier und da auch geselliges Beisammensein zu ermöglichen. So gehört es zu meinen prägendsten Erinnerungen an die 80er-Jahre, dass sich selbst in Großstädten wie Moskau junge Leute in den zahlreichen kleinen Parks trafen und abends zusammensaßen, sangen und Gitarre spielten. Ich hatte gemeint, der allgemeine Konsumrausch der 90er-Jahre hätte diese Tendenzen inzwischen überall weggespült – doch weit gefehlt:
 
Auch hier, im Minsk des 21. Jahrhunderts, sahen wir, wie in einem Rondell um einen Springbrunnen herum junge Leute saßen, schwatzten, Gitarre spielten und sangen. In diesem Moment fiel mir die Bemerkung eines amerikanischen Freundes wieder ein, der zu dem Phänomen der allgegenwärtigen singenden Grüppchen in Russland vor Jahren einmal gesagt hatte: „Die Russen kommen doch schon mit einer Gitarre in der Hand auf die Welt.“ Ganz unrecht hatte er damit vermutlich nicht.

 
Wir aber setzten vorerst unseren Weg durch das Stadtzentrum fort, um dann in einer jener Grill-Bars einzukehren, die auch in Russland in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Meist sind sie recht rustikal eingerichtet, und das Angenehme an diesem Verkaufskonzept ist, dass alles frisch zubereitet wird. Frisch gestärkt konnten wir also unseren Streifzug durch das inzwischen abendliche Minsk fortsetzen. Wir genossen es, vor dem Alltagstrubel, der uns zu Hause alle wieder erwarten würde, Zeit zu haben, nicht von A nach B hetzen zu müssen und auch mal hier und da einen Blick in abgelegenere Gassen werfen zu können. Kirchen, die wir dabei sahen, mussten wir nicht etwas wehmütig ob des Zeitmangels links liegen lassen – wenn sie offen waren, gingen wir hinein und suchten immer wieder nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu den Pendants in unseren Breiten.

 
Positiv überrascht waren wir, als wir inmitten all dessen, was in den letzten fast sechzig Jahren entstanden ist, ein kleines gemütliches Viertel fanden, das offenbar deutlich älter war – vielleicht Überreste einer früheren Minsker Altstadt. Es hatte etwas ausgesprochen Gemütliches an sich, dieses Fleckchen Großstadt mit seinen kleinen Gässchen und alten Häusern, das einem eher das Gefühl vermittelte, in einer Stadt wie etwa Prag zu sein als mitten in Weißrussland.

 
Irgendwann geht natürlich auch der laueste Sommerabend seinem Ende entgegen. Wir ließen ihn geruhsam ausklingen – in einer Umgebung, die an Romantik kaum zu überbieten war: Wir saßen vor unserem Hotel am Ufer des Swislotsch an der Flusspromenade – vor und hinter uns die Lichter der Großstadt – neben uns zu beiden Seiten verliebte Paare, die diese Abendstimmung vermutlich noch weit mehr genossen als wir.

 
Von Ferne drang die Musik eines improvisierten Biergartens zu uns herüber, wo wir uns zwar immer mal wieder mit Getränken versorgten, der aber ansonsten nur mäßig frequentiert war. Vielleicht lag es an der an Ort und Stelle viel zu lauten Musik oder an der Überdachung, die einem solchen Abend jegliche Idylle raubt. Auch wir zogen es vor, statt auf Stühlen mit angezogenen Beinen auf der Balustrade am Flussufer zu sitzen. Und obwohl wir uns noch lange unterhielten, hing wohl insgeheim doch jeder seinen eigenen Gedanken nach.

 
 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
 
 
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