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Weißrussland
 
Das Museum einer Spaltung

 
 
Auch wenn es der Titel vermuten lassen könnte - hier geht es weder um die Teilung Deutschlands noch um eine andere der im Moment wieder moderner werdenden Separationserscheinungen. Die Spaltung, von der hier die Rede sein soll, liegt bereits einige Jahrhunderte zurück.

 
Während einer ansonsten eher dienstlich motivierten Reise führte mich mein Weg auch nach Vetka. Vetka befindet sich etwa 20 Kilometer vor den Toren Gomels und ist im Wesentlichen durch das Museum für Volkskunst bekannt geworden, das 1987 eröffnet und 2001 umgebaut wurde.

 
In und um Vetka hatten sich nach der Spaltung der russisch-orthodoxen Kirche im Jahre 1653, die auch unter dem russischen Begriff „Raskol“ bekannt geworden ist, sogenannte Altgläubige angesiedelt, die bis zur Verseuchung dieses Gebietes durch die Katastrophe von Tschernobyl hier ansässig waren und – soweit dies in Sowjetzeiten noch möglich war – ihre Traditionen gepflegt haben.

 
An dieser Stelle seien noch einige Worte zu dieser Kirchenspaltung gesagt: Neben anderen Änderungen ist bis heute einer der auch äußerlich auffälligsten Unterschiede zwischen Altgläubigen und anderen Orthodoxen die Art, wie man sich bekreuzigt.

 
Die Gemeinsamkeit beider Glaubensgemeinschaften besteht darin, dass sie sich – im Gegensatz etwa zu Katholiken – von rechts nach links bekreuzigen. (Zu Kriegszeiten sollen anhand dieser von Kindheit an eingeschliffenen Gewohnheit sogar Spione entlarvt worden sein.) Die Art der Altgläubigen, sich zu bekreuzigen, ist wesentlich komplizierter als die heute in der russisch-orthodoxen Kirche übliche: Während bei den Orthodoxen Daumen, Mittelfinger und Zeigefinger die heilige Dreifaltigkeit symbolisieren, kreuzen Altgläubige Zeigefinger und Mittelfinger und schließen die Fingerkuppen von Daumen, kleinem Finger und Ringfinger. Auch die Symbolik ist hier wesentlich komplexer. So bedeuten Zeigefinger und Mittelfinger das „X“ für Christus, der in die Höhe gereckte Zeigefinger steht dafür, dass Christus zum Himmel hinaufgefahren ist, der gebeugte Mittelfinger steht dafür, dass er von Gott auf die Erde gesandt war. Daumen, kleiner Finger und Ringfinger symbolisieren die Dreieinigkeit, die gewissermaßen Zeugen des Sich-mit-Christus-Bekreuzigens sind, da man sich nur mit Zeigefinger und Mittelfinger bekreuzigt. In der russisch-orthodoxen Kirche bekreuzigt man sich mit den ersten drei Fingern, also der Symbolik zufolge mit der heiligen Dreifaltigkeit. Für die Gläubigen des 17. Jahrhunderts bedeutete diese Umstellung einen erheblichen Einschnitt in die gewohnten und von Kindheit an anerzogenen Rituale.
 
        Doch nicht nur um das Ritual des Bekreuzigens ging es bei der Kirchenspaltung. Der Anlass für die Spaltung war eine umfassende Reform innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche, deren Initiator der Patriarch Nikon war. Der hauptsächliche Streitpunkt zwischen Nikonianern und Altgläubigen war die Bücherkorrektur der liturgischen Schriften sowie die Veränderung des Glaubensbekenntnisses nach griechischem Vorbild.
 
An ersterer sollte sich die Kirchenspaltung entzünden, da viele spätere „Altgläubige“ nicht einsehen konnten, warum Bücher, die vorher heilig waren, mit einem Schlag als Ketzerei angesehen werden sollten. Alle weiteren Punkte der Reform waren in ihrer theologischen Bedeutung diesen großen Veränderungen eher untergeordnet, waren jedoch dem Volk in seiner praktischen Religionsausübung ebenso wichtig: die Umkehr der Prozessionsrichtung gegen die Sonne, das Verbot des parallelen Gesangs von Hymnen, die bereits erwähnte andere Form des Bekreuzigens, das dreifache anstelle des zweifachen Hallelujahs, nur vier statt siebzehn Verbeugungen und Kniefälle und die griechische Schreibung des Namen Jesu.

 
Mit diesen Änderungen war auch verbunden, dass nicht nur die liturgischen Schriften, sondern auch die alten Ikonen ihre Gültigkeit verloren. So fanden sich unter Führung des Protopopen Avvakum Gegner dieser Reform zusammen, die später als „Altgläubige“ bekannt wurden. Von der orthodoxen Amtskirche wurden sie verfolgt und sollten gewaltsam zum neuen Glauben bekehrt werden. Vor diesen Repressalien flüchteten viele Altgläubige in entlegene Landesteile, wo sie ihre eigenen Gemeinden aufbauten und in ihrer Religionsausübung nicht behindert wurden. So entstand auch die Gemeinschaft der Altgläubigen in Vetka, der nun ein Großteil des Museums gewidmet ist.

 
Ursprünglich hatten wir vorgehabt, ohne Führung durch das Museum zu gehen. Nach allem, was wir in den Tagen zuvor gehört und gesehen hatten, erschien uns unser Aufnahmevermögen eigentlich erschöpft. Doch diese Art von „Individualtourismus“ ließ die Kustodin des Museums nicht zu. Das ging gegen ihre Ehre. So kam sie, ohne dass wir vorher eine Führung bestellt oder bezahlt hatten (was wir hinterher selbstverständlich nachholten), einfach mit uns mit und erläuterte uns von sich aus die einzelnen Ausstellungsstücke.

 
Besonders interessant waren für uns die Nachbildungen von Werkstätten: Auf diese Weise erhält man in dem Museum heute noch Einblick in die Arbeit von Buchdruckern, Goldschmieden und Ikonenmalern zu Anfang des vorigen Jahrhunderts. So gibt es hier noch sehr viele Ikonen der Schule von Vetka, die bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts existierte. Das Verblüffende an diesen Ikonen ist ihre künstlerische Nähe zur Moskauer Schule des 17. Jahrhunderts. Dadurch, dass die Ikonenschule von Vetka altgläubig ausgerichtet war, wurde hier ein sehr traditioneller Malstil gepflegt, sodass es bis heute auch Fachleuten mitunter schwer fällt, die relativ modernen Ikonen von Vetka von den Moskauer Ikonen vor der Kirchenspaltung zu unterscheiden. Durch die Fülle und die Vielfalt der Exponate werden hier auch Details herausgehoben, die man sonst beim Betrachten von Ikonen eher nebenbei wahrnimmt, wie z.B. die Metallbeschläge, mit denen viele der Heiligenbilder versehen sind. Sie herzustellen war die Aufgabe der bereits erwähnten Schmiede, doch außer Gold, Silber, Messing und anderen Metallen wurden auch ganz andere Materialien eingesetzt, um die Ikonen zu verzieren. So haben wir zum Beispiel Ikonen gesehen, die ganz und gar mit einer Stickerei aus Glasperlen verziert waren. Und wer hätte gedacht, dass sich sogar an diesen Verzierungen die Geister scheiden und dass auch sie Modeschwankungen unterworfen sind?!

 
Wir erfuhren auch, dass sich die Ikonen der Altgläubigen von denen der Orthodoxen dadurch unterscheiden, was sich unter der Verzierung befindet: Bei beiden Arten von Ikonen ist in der Verzierung jeweils die Stelle ausgespart, an der sich bei dem dargestellten Heiligen Gesicht und Hände befinden, so dass diese in ihrer gemalten Form sichtbar sind. Die Heiligenbilder der Altgläubigen sind jedoch auch unter der Verzierung vollständig gemalt, während bei den Orthodoxen die Verzierung integraler Bestandteil der Ikone ist und nur Gesicht und Hände des Heiligen gemalt sind, wenn ein solcher Metallbeschlag vorhanden ist.

 
Daher ist es bei den Ikonen der Orthodoxen nicht möglich, die Verzierung zu entfernen, während bei den Altgläubigen die Ikonen auch ohne Beschlag in der dafür vorgesehenen Paradeecke der guten Stube aufgestellt werden können. Dies ist, wie gesagt, abhängig vom jeweiligen Zeitgeschmack. Im Moment sind wohl eher Ikonen ohne Verzierung im Trend, weshalb dem Museum viele Ikonenverzierungen übergeben wurden, die man auf Dachböden usw. gefunden hat, weil sie von den Ikonen abgenommen worden waren. Eine weitere Besonderheit des Museums sind die alten Bücher, die teilweise bis ins 16.Jahrhundert zurückreichen und auf die Anfänge des Buchdrucks in Russland zurückgehen. Durch die Bücherkorrektur bei der Kirchenreform galten vorher gedruckte Schriften bei den Orthodoxen als Häresie und sollten vernichtet werden. Da sie von den Altgläubigen vor der Zerstörung bewahrt wurden, fanden sie Eingang in die Ausstellung dieses Museums.

 
        Wir hatten an einem Vormittag mehr über Landeskunde und Geschichte dieser Region erfahren, als wir uns vor dem Besuch von Vetka hätten träumen lassen.

 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
 
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