- Literatur - Reiseblog

Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Übers Reisen
 
Begegnungen von emotionaler Tragweite

 
Immer, wenn ich längere Strecken mit dem Zug fahre, beschleicht mich ein Gefühl, als wäre ich für die Dauer dieser Fahrt quasi aus der Zeit gefallen. Bis zu dem Moment, da ich in den Zug gestiegen bin, hat sich mein Leben an einem Ort abgespielt, um Stunden später an einem anderen seine Fortsetzung zu finden. Und dazwischen?
 
Natürlich geht das Leben auch in der Zwischenzeit weiter – nur eben anders als gewöhnlich. Während die Menschen an meinem Abfahrtsort und auch in der Stadt, die nun mein Ziel ist, ihren normalen Tätigkeiten nachgehen, bin ich durch die Umstände der Reise gezwungen zu pausieren. Allerdings betrachte ich diesen Zwang in den meisten Fällen als Geschenk. Ich nehme mir Unmengen von Dingen vor, die ich auf der Zugfahrt machen möchte und zu denen ich sonst nicht komme – oder meine, nicht zu kommen. So hat eben jede Zugfahrt etwas Besonderes an sich: Man hat Zeit für Dinge, die man sonst nicht tun würde, oder trifft Menschen, denen man sonst nicht begegnen würde. Diese Fahrten sind mir die liebsten, denn Zugbekanntschaften haben mitunter eine ganz eigene Ambivalenz: Einerseits sind sie so flüchtig, dass man nicht einmal die Namen seiner Gesprächspartner erfährt, andererseits bleiben sie einem unter Umständen bedeutend länger im Gedächtnis als so manches Gespräch mit jemandem, an dessen Namen man sich sehr wohl erinnert.
 
So fand auch die erste der drei Begegnungen, von denen ich hier erzählen möchte, während einer Bahnfahrt statt. Ich habe beschlossen, mich gewissermaßen chronologisch rückwärts zu bewegen, sodass dieses Erlebnis noch gar nicht allzu lange her ist. Ich war beruflich unterwegs nach Thüringen und eigentlich aufgrund des bevorstehenden Symposiums schon mit allen Sinnen auf Russisch als Arbeitssprache und den Kalibergbau als Thematik eingestellt, als sich ein Spanisch sprechendes Pärchen in mein Abteil setzte. Aus dem bald darauf einsetzenden gemeinsamen Gespräch ergab sich, dass sie aus Argentinien kamen und auf einer Europarundreise gerade ihre ersten Tage in Deutschland verbrachten. Sie fragt mich nach der Berliner Mauer und danach, wie es sich denn mit ihr gelebt habe und nun ohne sie lebe. Da meine Spanischkenntnisse höchst begrenzt sind, war ich sehr froh, dass sich viele politische Begriffe an Bekanntes aus dem Englischen und Französischen anlehnen ließen, sodass ich dennoch das Gefühl hatte, verstanden zu werden. Aus dieser Tatsache schöpfte ich auch den nötigen Mut, meinen Mitreisenden, als wir an Wittenberg vorbeifuhren und die Türme der Stadtkirche und der Schlosskirche aufragen sahen, zu erzählen, dass dies die Stadt Martin Luthers sei. Sie fragten, was er denn mit seinen 95 Thesen bezweckt habe, und es entspann sich ein Gespräch über den Unterschied zwischen katholischer und evangelischer Kirche, das mir bis heute in Erinnerung geblieben ist. Die beiden Argentinier waren so interessiert und haben so viel gefragt, dass wir gar nicht gemerkt haben, wie schnell die Zeit vergangen ist. Inzwischen weiß ich nicht einmal mehr, wer von uns zuerst aussteigen musste, doch die aufgeschlossene Atmosphäre, die in unserem Abteil geherrscht hatte, werde ich sicher nicht vergessen.
 
Die zweite beeindruckende Begegnung liegt bereits etwas länger zurück: Sie fand gerade noch im vorigen Jahrtausend statt, und zwar auf einer Reise in das bis heute noch radioaktiv verseuchte Gebiet in der Nähe von Tschernobyl. Dort zeigten uns unsere Begleiter eine katholische Kirche, was im überwiegend orthodox geprägten Weißrussland eher eine Seltenheit ist. Da an diesem Tag in einem Nebengebäude der Kirche eine Synodalversammlung katholischer Priester stattfand, trafen wir hier auch einen Zisterzienserpriester, der einige Jahre zuvor aus Österreich in diese Gegend gekommen war und nun mehrere Pfarreien gleichzeitig betreute. Angefangen hatte für ihn alles mit einer Marienvision und einem verstorbenen Priesterkollegen, der ihm im Traum erschienen war und ihm gesagt hatte: „Du musst nach Osten gehen.“ Daraufhin hatte sich der Pater auf den Weg gemacht. Dass diese Region besonders problematisch ist, liegt sicher nicht nur daran, dass sich die katholische Kirche dort de facto in der Diaspora befindet. Die wirklich erdrückenden Schwierigkeiten resultieren vor allem aus den allgegenwärtigen katastrophalen Folgen der Strahlenbelastung, und es ist nicht verwunderlich, dass es einem sogar als völlig Außenstehendem einen Stich versetzt, wenn der Priester erzählt, dass in der letzten Zeit sechs seiner Kollegen sehr plötzlich gestorben waren, weil die ständig vorhandene Radioaktivität ihre Körper zerstört hatte. Das Leuchten verschwand aus den Augen des Paters bei seiner Bemerkung, dass er bisher eigentlich Glück gehabt habe, weil ihm nur einige Zähne ausgefallen seien. Doch gleich darauf nahm sein Gesicht wieder sehr irdisch-weltliche Züge an, als er uns freudestrahlend erzählte, dass er für seine Gemeinde gerade ein Auto bekommen habe: „Wissen Sie, einen TDI 140 – einen Turbodiesel!“ Nach diesem relativ kurzen Gespräch zeigte er uns noch die Kirche und erzählte uns von seinen zweisprachigen Gottesdiensten. Alles in allem war das eine der faszinierendsten Zufallsbegegnungen, die meine Reisen bisher für mich bereitgehalten haben.
 
Da aller guten Dinge drei sind, möchte ich zu guter Letzt ein Gespräch nicht unerwähnt lassen, das im September 1991 in einer Genfer Jugendherberge stattgefunden hat. Es war die vorletzte Station einer Interrail-Reise, mit der wir als Studenten Europa erkundeten. Vieles hatten wir in den Wochen davor gesehen, doch hatte all das auch die Eindrücke nicht verdrängen können, die wir von den Umwälzungen der vorangegangenen Zeit in unserem eigenen Land mit uns herum trugen. Waren wir bis dahin immer zu viert mit Zelten unterwegs gewesen, hatte sich unsere kleine Reisegruppe nun aufgelöst, und ich war mit meinem damaligen Freund, der nun schon über 20 Jahre lang mein Mann ist, allein unterwegs. Da wir in Genf keinen Zeltplatz gefunden hatten und diese Schweizer Herberge sich durch einen Hang zur Keuschheit auszeichnete, waren wir in verschiedenen Schlafsälen gelandet (Mädchen und Jungs fein säuberlich getrennt) und mussten uns wohl oder übel andere Gesprächspartner suchen. So fand ich mich im Laufe des Abends auf einer Treppe sitzend mit einer Taiwanesin wieder, die viele Fragen zur deutschen Wiedervereinigung hatte. Ich erzählte ihr alles über das Für und Wider, wie es sich mir damals darstellte, und wurde dann von einer ihrer Bemerkungen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Sie bedauerte es nämlich sehr, dass Taiwan und China noch immer getrennt waren, und meinte, wie glücklich wir doch sein müssten, dass es uns nicht mehr so ginge. Den zweiten Teilsatz hatte ich im vorangegangenen Jahr zwar schon oft gehört - aber noch nie von jemandem, der selbst noch von einer Teilung betroffen war. In diesem Moment spürte ich tatsächlich, dass wir froh sein konnten, keine Grenze mehr innerhalb unseres Landes zu haben, die Familien und Freunde voneinander trennte. Manchmal braucht man eben doch die Sicht von außen, um die Zustände im Inneren im wahrsten Sinne des Wortes mit anderen Augen zu sehen.
 
Das waren sie also - mein drei bewegendsten Reisebekanntschaften - Menschen von drei Kontinenten, die alle ihre Spuren bei mir hinterlassen haben (wahrscheinlich, ohne es selbst zu wissen). Ihre Namen habe ich nie gekannt, und doch möchte ich keines dieser Gespräche missen. Auch das ist für mich ein Grund, immer wieder auf Reisen zu gehen, denn nur, wenn man die gewohnte Umgebung verlässt, hat man auch die Chance auf ungewöhnliche Begegnungen.
 
Copyright 2015. All rights reserved.
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü