Prags kleine Schwester
795 Ansichten eines Turms – natürlich ist diese Zahl geradezu
maßlos übertrieben, wenn es um meine eigenen Fotos des Schlossturms von Český
Krumlov geht, aber sie ist nun einmal mein persönliches Synonym für „sehr, sehr
viele“, und über vierzig Bilder, die ich an einem Tag von diesem Stück
Weltkulturerbe gemacht habe, sind auch weit über meiner sonstigen Norm.
Versuchte man herauszubekommen, wie viele Bilder pro Tag insgesamt vom, wie es
auf Deutsch heißt, Schloss Krumau geschossen werden, dürfte die Zahl weit höher
liegen.
Immerhin ist die kleine Stadt in
Südböhmen mit ihren rund 13.000 Einwohnern so etwas wie Prags kleine Schwester.
Sie liegt ebenfalls an der Moldau, verfügt über viele alte Gassen und Gässchen
und nennt auf einer Anhöhe den nach der Prager Burg zweitgrößten erhaltenen
historischen Bau Tschechiens ihr Eigen.
Dieser Turm
war es auch, durch den ich vor mehr als zwanzig Jahren auf Český Krumlov
aufmerksam wurde. Wir hatten im Tschechischunterricht über Südböhmen gesprochen,
und ich hatte mich sozusagen auf den ersten Blick in den freundlich bunten Turm
verliebt. Da traf es sich hervorragend, dass uns einer unserer nächsten Urlaube
genau in diese Gegend führte. Während der Schlossführungen erfuhren wir dann
zum ersten Mal etwas über die Rosenberger und die Schwarzenberger, jene beiden
Adelsgeschlechter, die für dieses Schloss prägend waren und einem in den
zahlreichen Burgen und Schlössern Böhmens immer wieder begegnen: Die
Rosenberger hatten Český Krumlov Anfang des 14. Jahrhunderts erworben und ihm
zu erster Blüte verholfen, die Schwarzenberger waren ab dem 18. Jahrhundert bis
in die Neuzeit die letzten Besitzer, denen das Schloss als Privateigentum
gehörte. Seitdem waren wir immer wieder einmal in Südböhmen, wenn auch nicht
ganz so häufig, wie es sich für diese wunderschöne Gegend eigentlich lohnen würde.
Dadurch, dass Český
Krumlov so gut erhalten geblieben ist und natürlich entsprechend gepflegt wird,
ist hier alles spektakulär: von den bemalten Renaissancefassaden und dem Turm,
der das unverkennbare Wahrzeichen der Stadt ist, über die Renaissance-, Barock-
und Rokokosäle, von denen mir der Maskensaal mit den an die Wände gemalten
Figuren der Commedia dell’Arte besonders gut gefallen hat, bis hin zum
Barocktheater der Eggenberger, jenem Geschlecht, das zwischen den Rosenbergern
und den Schwarzenbergern in Český Krumlov residierte. Dieses Theater mit
verschiebbaren Kulissen ist eines von nur zwei weltweit erhaltenen, komplett
funktionstüchtigen Einrichtungen seiner Art. Der nach französischem Vorbild
angelegte Schlossgarten sowie die Brücke, die einem Viadukt gleich vom Schloss
selbst zu ihm hinführt, tun ein Übriges.
Selbst wenn
man keine der angebotenen drei Führungen bucht, sondern sich nur mit dem Strom
der Touristen über das riesige Areal treiben lässt, kommt man zweifellos auf
seine Kosten: Die Malereien an den Außenfassaden der Neuen Burggrafschaft und
in den Schlosshöfen laden dazu ein, sie intensiv zu betrachten, weil sich
keines der Motive zu wiederholen scheint. An der Burggrafschaft findet man
mythologische Darstellungen des Niederländers Gabriel de Blonde in
Chiaruscuro-Technik, einer monochromen Malerei, deren ganze Vielfalt sich mir
zumindest erst auf den zweiten Blick, dafür aber umso nachhaltiger erschloss. In
diesem Gebäude befindet sich übrigens auch die Schlossbibliothek mit 55.000
Bänden. Inzwischen ist auch die Schlossschmiede wieder zugänglich, sodass man
sich wirklich einen ganzen Tag lang komplett im Schlossareal beschäftigen kann.
Allerdings ist
Český Krumlov auch in Bezug auf die Anzahl der Touristen durchaus als kleine
Schwester von Prag zu bezeichnen. Durch die gesamte Altstadt wälzen sich
lavaartig die Ströme, angeführt von Stadtführern mit den unvermeidlichen
Schirmen, damit keiner der japanischen Gäste vielleicht aus Versehen einer
Spanisch sprechenden Gruppe hinterherläuft.
Gegen Abend
endet dieses Treiben allerdings, weil Český Krumlov ein typisches Ziel für
Tagesauflüge ist, die in ganz Tschechien, besonders aber in Prag angeboten
werden. Das füllt die Stadt über Mittag ungemein, hat aber den Vorteil, dass
spätestens nach Ladenschluss auch alles wieder vorbei ist und man sehr
gemütlich durch die kleinen Straßen flanieren kann. Vor Touristenfallen auf der
Hut sein sollte man aber dennoch. So hatten wir uns vorgenommen, den Abend in
einem Restaurant zu verbringen, das uns schon vor 14 Jahren wegen seiner
schönen Lage mit einer Terrasse am Moldau-Ufer aufgefallen war und an das wir
durchaus gute Erinnerungen hatten.
Prag oder Český
Krumlov - manchmal hat man aufgrund der vorgesehenen Fahrtroute gar nicht
selbst die Wahl, welche der Schwestern man besucht. Unbedingt
sehenswert sind beide Städte allemal, und wer in Tschechien auch nur einen
einzigen Tag erübrigen kann, sollte sich Český Krumlov auf keinen Fall entgehen
lassen.