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Tschechien
 
Die Drachen der alten Burg

 
Es fing mit mehreren alten Lieben an: mit meiner Liebe zu Märchen und der Liebe zu Jičín, der Stadt, die man in Tschechien als Tor zum Böhmischen Paradies bezeichnet. Damit keine falschen Vorstellungen aufkommen: Die Bezeichnung „Böhmisches Paradies“ hat nichts mit den bereits erwähnten Märchen zu tun, es ist eine Landschaft in Ostböhmen, die in erster Linie für ihre herrlichen Wanderwege berühmt ist.

 
Sehr wohl mit Märchen zu tun hat allerdings die Stadt Jičín selbst – sie trägt den Beinamen „Stadt der Märchen“, und bereits seit 25 Jahren findet hier im Frühherbst ein großes Märchenfestival statt, das weit über die Grenzen der Region hinaus bekannt und beliebt ist.

 
Diesmal aber hatte mich noch etwas anderes nach Jičín gelockt: eine Werbetafel, die im Zusammenhang mit einer alten Burg, die sich elf Kilometer von der Stadt entfernt befindet, Drachen und Ritter zeigte und einen lohnenden Ausflug für die ganze Familie versprach. Natürlich war ich es meiner alten Liebe zu Märchen aller Art schuldig, mir das genauer anzusehen, und auch der Rest der Familie war einem Ausflug zu Drachen und Rittern nicht abgeneigt.

 
Obwohl es an diesem Tag buchstäblich in Strömen goss (das Wasser floss auf der Fahrbahn vor dem Burgeingang tatsächlich bergab an uns vorbei), wurden unsere Erwartungen noch übertroffen. Dass es sich bei Staré Hrady um eine alte Burg handeln muss, verrät demjenigen, der ein wenig Tschechisch kann, bereits der Name. Wie aber diesem alten Gemäuer neues Leben eingehaucht wurde, ist wahrscheinlich nur damit zu erklären, dass die Liebe zu Märchen auch bei Erwachsenen in Tschechien wesentlich stärker verwurzelt ist als etwa in Deutschland. So kann man bei den drei möglichen Führungen nur auf den zweiten Blick zwischen den einzelnen Teilen der gotischen Burg und des Renaissanceschlosses wählen, auf den ersten hat man die Wahl zwischen Drachengemächern, dem Märchenverlies und dem Märchendachboden, die jeweils von den unterschiedlichsten Märchenfiguren bevölkert werden.

 
Die heutigen Besitzer, das Ehepaar Suk, kauften Burg und Schloss 2007 und öffneten sie 2008 für die Öffentlichkeit. Ihnen ist wohl auch das märchenhafte Ambiente zu verdanken, denn in den Märchenbüchern, die im ganzen Areal verkauft werden und die Geschichten der einzelnen „Schlossbewohner“ erzählen, firmieren sie als Autoren.

 
Deshalb sind der eigentliche Blickfang nicht die alten Möbel und die hier und da noch vorhandenen Porträts von Kaiser Franz Josef und seiner Sissi. Vielmehr fragt man sich bei jedem der Rundgänge, wann man denn nun auf Archibald I. trifft, den Zauberer, der – den Märchenbüchern zufolge – die etwas außer Rand und Band geratene tschechische Märchenwelt wieder in Ordnung gebracht und allen darin vorkommenden Wesen in Staré Hrady zu einer Heimstatt verholfen haben soll. Auch die Schlossführungen werden von durchaus kompetenten Wesen in Sachen Märchen und Sagen übernommen: mal von einer Prinzessin, mal von einer Teufelin und mal von einer Hexe oder einem Tempelritter höchstpersönlich. (Dass den Studenten, die sich hier in den Ferien und an Wochenenden verdingen, ihre Arbeit ausgesprochen viel Spaß macht, merkt man bei jedem Rundgang.)

 
Was bekommt man dabei nicht alles zu sehen: Drachen und Elfe bevölkern die Beletage, auf dem Dachboden hausen die Hexen, und im Keller gelangt man nach dem Palast der Elfe vom Reich des Wassermanns (in dem man sich bei starkem Regen tatsächlich nasse Füße holen kann) durch die Wohnung eines Riesen und das Eiskönigreich direkt bis in die Hölle. (Bei starkem Regen ist allerdings auch diese weniger furchterregend, denn der Wassermann schickt dann sein Wasser bis dorthin, sodass in jedem Fall für die nötige Nässe gesorgt ist.)

 
Im Vorhof der Hölle gibt es übrigens einen Teufel mit Zahnschmerzen, der sich zu selten die Zähne geputzt hatte, und eine Teufelsschule, in der kleine Teufel lernen, wie man Elixiere braut. Die Liebe zum Detail wird in jeder der Figuren sichtbar, von der dicken Backe des Zahnschmerzteufels und der Fledermaus, die hier die Briefe bringt, bis hin zu der Tatsache, dass natürlich auch das kleinste Teufelchen einen Pferdefuß hat. Die weißen Mäuse, die die Kutsche der Hexe ziehen, die für den Kater nach durchzechten Nächten sorgt, heißen bezeichnenderweise Delirium und Tremens.

 
Wohin man aber auch gelangt – in die Barockküche, den alten Uhrenladen oder eine Kaffeestube –, den roten Faden bilden überall die Drachen:
 
Auf Fenstersimsen, Schränken und von der Decke hängend kann man sie finden, und ihre Vielfalt ist geradezu unerschöpflich. Dreißig verschiedene sind es bisher, und wer sich nicht vorstellen kann, wie das Drachenreich aussieht, in dem nicht nur König, Königin und drei höchst unterschiedliche Prinzessinnen Drachen sind, sondern auch der Hofnarr und die anderen Mitglieder des Hofstaates, dem sei die Schlossbesichtigung wärmstens empfohlen.

 
All die verschiedenen Geschöpfe wurden mit so viel Liebe gestaltet, dass man immer wieder meint, man wäre selbst direkt in die Märchenwelt versetzt worden. Die Antwort auf die Frage, wer denn all diese Figuren herstellt, lautet übrigens: „Sie wurden alle hier auf der Burg geboren.“

 
Jede der drei Führungen dauert etwa vierzig Minuten, und anschließend haben selbst die Kinder, die aufmerksam gelauscht haben, das Gefühl, sie sei eher zu kurz denn zu lang gewesen. Und so ist es auch kein Wunder, dass sowohl die kleinen als auch die großen Besucher zustimmend nicken, wenn die Führung mit den Worten geschlossen wird: „Jedes Märchen ist irgendwann zu Ende, und unsere Führung ist es jetzt auch. Vielen Dank, einen guten Heimweg und vielleicht – irgendwann – auf Wiedersehen!“

 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
 
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