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Russland
 
Kitai-Gorod ist nicht Chinatown

 
Wer kennt sie nicht, die Filme mit Jackie Chan und all den anderen, die dafür gesorgt haben, dass man den Begriff Chinatown automatisch mit amerikanischen Großstädten, Gangstern und Kung Fu in Verbindung bringt? Versucht man dasselbe jedoch aufgrund vorhandener Russischkenntnisse mit dem Moskauer Stadtteil Kitai-Gorod, weil "Kitai" nun einmal "China"  heißt und "gorod" "Stadt", befindet man sich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Holzweg. Schließlich besagt eine der denkbaren Versionen, dass die Bezeichnung dieses Viertels von dem alten Wort "Kit" herrührt, das für zusammengebundene Holzbalken stand, die für die Errichtung von Schutzwällen verwendet wurden.

 
In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dem ungewöhnlichen Namen jener Teil des Moskauer Stadtzentrums, der sich vom östlichen Ende des Roten Platzes bis zum Lubjanka-Platz und zum Ufer der Moskwa erstreckt.

 
Das Erste, das ich sah, als ich den Metroeingang verließ, war eine wunderschöne, auffallend rosafarbene Kirche mit weißem Stuck, einem grünen Dach und goldenen Kuppeln, die selbst im Regen, der in diesem Moment einsetzte, unübersehbar leuchteten. Es handelte sich um die Bogojawlenski- oder auch Erscheinungs-Kathedrale, die Kirche des gleichnamigen Klosters. Wie mehr als 300 andere Kirchen in Moskau wurde auch diese Klosterkirche in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts geplündert, endgültig zerstört wurde sie jedoch nicht im Zuge der stalinschen antireligiösen Politik, sondern durch ein deutsches Aufklärungsflugzeug im Zweiten Weltkrieg. Erst 1991 wurde die Kirche wieder aufgebaut und nun wieder genutzt. Ihre Geschichte ist geradezu exemplarisch für Hunderte anderer Kirchen in Moskau und ganz Russland, wovon die einen zu Sowjetzeiten komplett zerstört, die anderen für Zwecke genutzt wurden, die man sich für Kirchen eigentlich nicht vorstellen kann - ob als Umkleideraum für ein Stadion, Abstellräume oder ähnliches. Erst nach der Perestroika wurden viele von ihnen mit Hilfe von Spenden der Gläubigen wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt.

 
Doch noch mehr gibt es in Kitai-Gorod zu sehen, zu dem übrigens auch die berühmte Basilius-Kathedrale gehört. Ich aber war auf meinem Streifzug in den Finanzdistrikt geraten, wovon das Straßenschild "Börsenplatz" ein beredtes Zeugnis ablegte. Das farbenfrohe Bild der Bauten sollte mich allerdings auch weiterhin begleiten: So ist der Gostiny Dwor, eine alte Markthalle, hellblau, das Gebäude der Industrie- und Handelskammer, das früher die Moskauer Börse beherbergte, leuchtet in hellem Orange und Moskaus allererstes Hochhaus, ein fünfstöckiger Bau von 1876, ist hellgrün. Wer sich in der russischen Architektur vergangener Jahrhunderte ein wenig auskennt, weiß, dass diese Zusammenstellung keineswegs ungewöhnlich ist.

 
Weitaus seltener ist jedoch im Moskau unserer Tage, dass ein ganzes bauliches Ensemble so geschlossen erhalten gebliegen ist oder wiederaufgebaut wurde, ohne es durch hypermoderne Lückenbauten zu stören. Wesentlich häufiger ist inzwischen leider der Fall, dass dort, wo noch alte Bausubstanz vorhanden ist, entweder Bürohäuser mit Glasfassaden daneben gesetzt oder - wie zu Zeiten des Bürgermeisters Luschkow in geradezu empörend vielen Fällen geschehen - alte Gebäude abgerissen und die Grundstücke teuer weiterverkauft wurden, um dann an die Stelle der alten Gemäuer neue Glasfassaden zu setzen.

 
Auch das renommierteste aller Moskauer Geschäfte liegt in diesem Viertel: das berühmte Kaufhaus GUM. Obwohl Vergleiche immer hinken, ist es sicher nicht übertrieben zu sagen, dass das GUM für die Moskauer ungefähr dasselbe ist wie für die Berliner das KaDeWe. Allerdings ist die Fassade des Konsumtempels am Roten Platz wesentlich freundlicher, und die Verkaufsfläche erstreckt sich eher in die Breite als in die Höhe. So reiht sich in drei parallelen Gängen Geschäft an Geschäft, wobei in der Mitte immer noch Platz zum Flanieren bliebt.

 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
 
 
 
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