Bei Wolgatreidlern und
Saporoger Kosaken
Die Idee, diese Ausstellung zu besuchen, wurde geboren, lange
bevor ich in diesem Jahr nach Moskau kam. Schon im Februar schrieb mir mein
Freund Timur eine Nachricht, dass der Frühling nun langsam vor der Tür stehe
und mit ihm eine große Repin-Ausstellung in der Tretjakow-Galerie. Wenn ich
schon wüsste, wann ich kommen würde, würde er schon einmal Eintrittskarten
bestellen, weil der Andrang gewaltig sei.
Als ich im Mai endlich selbst vor dem Neubau der
altehrwürdigen Galerie stand und die große Werbung für die Ausstellung sah,
wurde mir nach und nach bewusst, wie recht er hatte. Zum Glück hatte er es
wirklich geschafft, Karten zu besorgen, sodass uns dieses Großereignis des
Moskauer kulturellen Lebens nicht entging. Die Retrospektive war wirklich
beeindruckend: 170 Gemälde und 30 Grafiken waren aus 21 russischen und 7
ausländischen Museen sowie 7 Privatsammlungen zusammengetragen worden, und das
übliche Begleitmaterial in Form von Audioguide und Katalog wurde noch durch
eine zweistündige Videoführung der Kuratorin auf Youtube ergänzt, die ebenfalls
ausgesprochen sehenswert ist.
Ich fühlte mich bei vielen der Bilder in meine Schulzeit
zurückversetzt: „Die Wolgatreidler“, die „Unerwartete Heimkehr“ und das Porträt
Modest Mussorgskys hatten mich damals schon fasziniert, und mit „Die Saporoger
Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“ bin ich praktisch
aufgewachsen, weil meinem Vater, der ein Faible für die Malerei hatte, dieses
Bild so gut gefiel, dass ich es schon relativ früh kennenlernte. Natürlich
wusste ich damals noch nicht, dass es diesen Brief wohl tatsächlich gegeben hat
und dass Repin mindestens vier Versionen des Bildes gemalt hat. Die erste hatte
nämlich der Zar Alexander III. sofort gekauft, als er das Bild auf einer
Ausstellung sah. Mit 35.000 Rubel war es das bestbezahlte Gemälde der
russischen Kunstgeschichte. Es verblieb in der Sammlung des Zaren und kam 1917
ins Russische Museum in Sankt Petersburg.
Zehn Jahre hatte Repin an diesem Bild gearbeitet und war
dafür allein zweimal in die Ukraine gereist, hatte sich Ausstellungen von
Ausrüstungsgegenständen der Kosaken angesehen, um sie möglichst originalgetreu
abbilden zu können, und hat unzählige Skizzen zum Gesichtsausdruck der
einzelnen Figuren angefertigt. Dieses Gemälde ist das erste in der Geschichte,
auf dem das Lachen als Mittel zur Darstellung von Einigkeit eingesetzt wird,
und kein Lachen gleicht dabei dem anderen.
Auch über andere Bilder erfährt man vieles in dieser
Ausstellung. Repin war ein hervorragender Porträtmaler, der vor allem dafür
bekannt war, einzelne Momentе im Leben eines Menschen einzufangen. Akribisch genau hat er
an den Gesichtsausdrücken gearbeitet und viele Bilder wieder und wieder
übermalt.
Manchmal hatte das aber auch ganz andere Gründe, wie bei dem
Bild „Die Nonne“. Dargestellt ist darauf seine Schwägerin, die ältere Schwester
seiner Frau. Inzwischen weiß man, dass Repin sie eigentlich sehr attraktiv im
Abendkleid gemalt hatte. Dann gab es jedoch Streitigkeiten in der Familie, und
er hat die weltliche Kleidung komplett übermalt und die nun ungeliebte
Schwägerin als Nonne dargestellt. Röntgenaufnahmen haben diese These inzwischen
bestätigt und die ursprüngliche Version wieder zutage gebracht.
Mich hat eine Darstellung des Judas besonders beschäftigt,
der so einen verschlagenen Gesichtsausdruck hat, dass mir der Gedanke kam, dass
man den Verräter so sofort erkannt hätte. Andererseits ist es fraglich, ob
Jesus ihn dann überhaupt zu einem seiner Jünger erkoren hätte, doch das bleibt
wohl das Geheimnis des Malers.
Ein wichtiges Werk fehlt jedoch in der Ausstellung, obwohl es
sich im Besitz der Tretjakow-Galerie selbst befindet: „Iwan der Schreckliche
und sein Sohn Iwan am 16. November 1581“. Die Darstellung des Zaren, der seinen
eigenen Sohn im Affekt getötet hat, wurde schon mehrmals zum Opfer von
Vandalismus, so auch im Mai 2018, als ein Besucher der Galerie, kurz bevor
diese abends geschlossen wurde, mit einem Teil einer Metallabsperrung auf das Gemälde
einschlug und die Leinwand an drei Stellen zerstörte. Dennoch wird das Gemälde
mit einem extra freigehaltenen Platz an der Wand und dem Bericht über diesen
Vorfall gewürdigt.
Vieles gibt es noch zu sehen in dieser Ausstellung: unzählige
Porträts von Lew Tolstoi, mit dem Repin befreundet war, und ein Wandgemälde,
das eine Festsitzung des Staatsrates am 7. Mai 1901 anlässlich seines
100-jährigen Bestehens zeigt. Jeder der 81 Anwesenden war zuvor verpflichtet
worden, Repin anschließend mindestens für eine Sitzung Modell zu stehen, und so
sind außer dem Gesamtkunstwerk noch mindestens 48 Einzelporträts entstanden,
von denen hier ebenfalls einige gezeigt werden.
All das können jedoch nur Schlaglichter
einer Ausstellung bleiben, in der man viele Stunden verbringen kann und die
sicher in ihrer Fülle einzigartig bleiben wird. Und auch wenn der Katalog dazu
ausgesprochen umfangreich ist, kann er doch mit dem Erlebnis, all diese Bilder
in der Realität gesehen zu haben, natürlich nicht mithalten. Doch egal, ob man
es schafft, sich die Ausstellung noch anzusehen oder nicht, eine Erkenntnis
würde ich hier gern weitergeben: Ilja Repin wird nicht zu Unrecht als der
größte russische Maler des 20. Jahrhunderts bezeichnet, und sein Leben und Werk
sind es in jedem Fall wert, sich eingehender mit ihnen zu beschäftigen.