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Russland
 
Was lange währt, wird manchmal auch noch besser

 
Wie habe ich mich vor zwei Jahren geärgert, als ich bei meinem damaligen Besuch in Moskau feststellen musste, dass der Springbrunnen „Goldene Ähre“ komplett angerüstet war! Immerhin hatte ich ihn auf der Allunionsausstellung schon oft gesucht und nie gefunden, und nun, da ich endlich davor stand, konnte ich ihn wieder nicht richtig fotografieren!

 
Doch wie sagte meine Großmutter immer so schön? „Wer weiß, wozu es gut ist!“ Dass sie damit mehr als recht hatte, sollte sich auch in diesem Fall wieder bestätigen. So hatte ich nämlich auch in diesem Jahr wieder einen Grund, der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft, wie das Gelände im Norden Moskaus offiziell heißt, einen Besuch abzustatten. (Nicht dass man dafür unbedingt einen Grund brauchte, denn einе Fahrradtour durch die angrenzenden Parks ist allein schon immer ein Erlebnis.)

 
Außerdem gab es noch etwas, das meine Aufmerksamkeit schon im Vorfeld der Reise quasi mit voller Wucht auf de Allunionsausstellung gelenkt hatte: eine Diskussion, die im Internet seit einigen Wochen erbittert geführt wurde. Stein des Anstoßes waren dabei ausgerechnet die Springbrunnen. Was lag nun also näher, als das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und mir selbst ein Bild von all dem zu machen, was ich inzwischen gehört und gelesen hatte?!

 
Gleich am ersten Tag meines diesjährigen Aufenthaltes machten mein Freund Timur mit seiner ganzen Familie und ich uns also per Fahrrad auf den Weg zum Park Ostankino, der unmittelbar an die Ausstellung grenzt. Unsere erste Station war, wie ich es mir gewünscht hatte, die „Goldene Ähre“ - und ich muss sagen, das Warten hat sich gelohnt! Der 1954 erbaute Springbrunnen, der in den 1990er-Jahren bereits ausgeschaltet wurde, weil er immer mehr verfiel, ist nun in voller Schönheit wiederauferstanden und macht seinem Namen alle Ehre. Aus der Ähre, die selbst 16 Meter hoch ist, schießen 66 bis zu 25 Meter hohe Fontänen. Die Füllhörner am Fuße der Ähre sind zwar bunt, aber nicht aufdringlich, was in Moskau derzeit nicht hoch genug geschätzt werden kann.



Genau darum geht es nämlich bei der Diskussion, die seit Ende April mit Moskauer Vehemenz in den sozialen Netzwerken brodelt. Zu diesem Zeitpunkt wurden nämlich die anderen beiden großen Springbrunnen der Ausstellung, nachdem sie restauriert worden waren, wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: die „Steinerne Blume“ und der Brunnen der Völkerfreundschaft. Die Frage nach dem schmalen Grat zwischen Schönheit und Kitsch wird in Moskau schon seit einigen Jahren immer wieder gestellt, weil einige von der Stadtverwaltung aufgestellte Dekorationen wie Plastikbäume mit rosa Blüten oder silberne Bäume ohne Blätter, aber mit bunten Vogelkäfigen, tatsächlich zu Diskussionen hierüber geradezu einladen.

 
Nun also auch die Springbrunnen. Das Problem, an dem sich die Gemüter entzünden, ist ihre neue farbliche Gestaltung. Auch wenn es durchaus Äußerungen gibt, die meinen, ganz zu Anfang, also in den 1950er-Jahren, hätten die Brunnen genauso ausgesehen, ist der derzeitige Anblick vielen Moskauern zu aufdringlich. Da werden für die Frauenfiguren der verschiedenen Unionsrepubliken am Brunnen der Völkerfreundschaft auch schon einmal Vergleiche mit der Statue des Turkmenbaschi am Denkmal für die Unabhängigkeit in Aschgabat laut, das seit seiner Entstehung aufgrund der übermäßig glänzenden goldenen Oberfläche für Prunksucht und Personenkult steht.

 
Leider ist dieser Vergleich nicht völlig von der Hand zu weisen, denn die Statuen der einzelnen Damen glänzen wirklich ein bisschen zu sehr, sodass man den Eindruck hat, sie sind doch etwas zu stark poliert worden. Ob sich in diesem Fall der berühmte Zahn der Zeit einmal positiv auswirkt und den Glanz wieder „normaler“ erscheinen lässt, bleibt abzuwarten, wobei es sich dabei allerdings um Jahre handeln dürfte. Doch auch dann ist noch nicht sicher, ob sich die alte Schönheit wieder einstellen kann, denn im Moment scheint es, als seien auch einige der früher sorgfältig angebrachten Strukturen mit wegpoliert worden, die den Frauen ihr unverwechselbares Äußeres gegeben haben. Sollte das tatsächlich so sein, kann wohl auch eine gnädige Patina die ursprüngliche Schönheit nicht wiederherstellen.



 
Noch zwiegespaltener sind die Beurteilungen des dritten Brunnens, der „Steinernen Blume“. Ihr Bezug ist auch bei uns nicht ganz unbekannt, wird doch der gleichnamige Märchenfilm des Regisseurs Alexanders Ptuschko von 1946 in der deutschen Synchronisation bis heute auch hierzulande bisweilen im Fernsehen gezeigt. Er lief übrigens am 8. April 1947 als deutsche Erstaufführung (noch mit Untertiteln) in den Kinos aller Berliner Sektoren gleichzeitig an, was damals sogar als Schritt zur Aufhebung der Sektorengrenzen gewertet wurde.

 
Die Handlung des Films basiert auf Märchen aus dem Ural, die Pawel Baschow in dem Buch „Die Malachitschatulle“ zusammengetragen hatte. Genau darum dreht sich nun auch der Streit, bei dem der ansonsten sehr schöne Brunnen der Stein des Anstoßes ist. Viele Moskauer finden, die Farben des Buntglases, das für die Ausbesserung der alten Mosaike verwendet wurde, seien zu grell und vor allem das Grün weise nicht die richtige Malachitfärbung auf. Damit geht für sie der Bezug zu dem Märchen verloren, das sie von Kindheit an geliebt haben und dessen Verkörperung der Springbrunnen immer war.

 
Auch in diesem Fall gibt es Publikationen im Internet, die davon ausgehen, dass der Brunnen nun sein ursprüngliches Aussehen zurückerhalten hat, doch der Unterschied zwischen dem Anblick vor und nach der Restaurierung ist schon erheblich. Offensichtlich wurden sogar alte Details einfach durch neue, gröber strukturierte ersetzt, sodass die ursprüngliche Feinheit verlorengegangen ist. Hat man die Blume vorher noch nie gesehen, kann man sie jetzt durchaus sehr schön finden, gerade Kinder lieben sie, weil sie so bunt ist. Den Moskauern, die an die gedeckten Farben gewöhnt waren und nach den Parallelen zu Baschows Märchen und den darin beschriebenen Halbedelsteinen suchen, ist sie jedoch einfach zu schreiend. Die Begriffe „billig“, „Basar“ und „Glaszeugs“ waren in der Beurteilung meines Freundes Timur noch die harmloseren, und ich kann ihn in gewisser Weise natürlich verstehen.



 
Ich für mein Teil bin froh, dass ich das Ausstellungsgelände besucht habe und nun beide Varianten kenne, und brauche wohl noch eine Weile, um mir ein abschließendes Urteil zu bilden. Bei der Steinernen Blume kann ich beide Seiten verstehen, tendiere aber natürlich eher zu der Fraktion, die die märchenhafte, feingliedrige Plastik schöner fand, beim Brunnen der Völkerfreundschaft hat mir das Aussehen vor einigen Jahren deutlich besser gefallen, und von der Goldenen Ähre bin ich bedingungslos begeistert. Doch wer weiß, vielleicht wächst ja in einigen Jahren zwar kein Gras, aber zumindest soviel Patina über die Sache, dass die Brunnen dann doch wieder eine harmonische Einheit bilden? Ich werde es auf jeden Fall im Auge behalten!
 
 
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