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Russland
 
Acht Jahrhunderte in zwei Tagen

 
Am Anfang war ein Lied. In diesem Fall ein Lied, das der beste aller Ehemänner zu einem meiner Kinderbücher geschrieben hatte und in dem es um die berühmte Tretjakow-Galerie ging. Mit künstlerischer Leichtfüßigkeit hatte er sich dafür durchs Internet geklickt und sich die Gemälde des berühmten Museums, in dem wir vor über zwanzig Jahren gewesen waren, in Erinnerung gerufen. Entstanden war dadurch ein Text, der auf die schönsten und bekanntesten Bilder der Galerie Bezug nimmt, aber auch diejenigen einbezieht, die ihr öffentliches Dasein ein wenig im Schatten der Großen fristen. Da ich dieses Lied ausgesprochen schön finde, hatte mich all das nun auf die Idee gebracht, der Galerie selbst wieder einmal einen Besuch abzustatten und die entsprechenden Bilder dort gewissermaßen als roten Faden zu suchen.

 

Eines stellte sich gleich heraus, nachdem ich den ersten Saal des alten Gebäudes betreten hatte: Wenn ich wirklich etwas über die Gemälde erfahren wollte, brauchte ich dringend einen der am Eingang angebotenen Audioguides, denn nur so bekommt man die nätigen Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Gemälden. Viele von ihnen hatten wir zwar – eine durchaus noch sehr klassich geprägten Ausbildung sei dank! – im Russischunterricht und anderen Fächern in der Schule behandelt, aber die netten Kleinigkeiten bekommt man eben doch nur bei gut geführten Museumsbesuchen mit.

 
So hatte ich beispielsweise vorher noch nie etwas von Prokofi Akkinfijewitsch Demidow gehört, der mich nun von seinem Ganzkörperproträt herunter süffisant anlächelte. Der Industrielle und Mäzen, der im 18. Jahrhundert gelebt hat, war unter seinen Zeitgenossen durchaus für seine Extravaganz bekannt. So ist allein die Tatsache schon erstaunlich, dass er uns auf dem von Dmitri Lewizki Bild gewissermaßen im häuslichem Ornat gegenübertritt; die Geschichten, die man sich über ihn erzählt, sind jedoch geradezu unglaublich. So soll er, weil er so gern Schlitten fuhr und dieses Vergnügen nicht nur auf  die kalte Jahreszeit beschränken wollte, befohlen haben, Salz aufzuschütten, damit er auch im Sommer zum Gaudi der damaligen Moskowiter Schlitten fahren konnte. Ein von ihm 1778 in Sankt Petersburg veranstaltetes Volksfest, das aufgrund der ausgeschenkten Unmengen an Alkohol für 500 Personen tödlich endete, gehört hingegen schon eher in den Bereich der Tragikomik.


Auch bei anderen Bildern (unter anderem jenen, die der ursprüngliche Anlass für meinen Museumsbesuch gewesen waren) erfuhr ich dank dem Audioguide mehr über die „handelnden Personen“. So ist die junge Frau in Polenows „Großmutters Garten“ die Schwester des Malers und Serows „Mädchen mit Pfirsichen“ Vera, die Tochter des Unternehmers und Mäzens Sawwa Mamontow, dessen Anwesen in Abramzewo bei Moskau zwischen 1870 und 1890 einer der Künstlertreffpunkte jener Zeit war.

 
Vom 12. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert reicht die Sammlung im alten Gebäude der Tretjakow-Galerie. Hierbei schließt der Begriff „alt“ jedoch nicht aus, dass bestimmte Exponate in neuer, heute besonders zeitgemäßer From präsentiert werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Wrubel-Saal, in dem mitunter auch Veranstaltungen stattfinden und der Anfang der 2000er-Jahre in seiner jetzigen Form eingerichtet wurde.

 
Nach und nach fand ich so die meisten der Bilder, die ich, den Spuren des eingangs erwähnten Liedes folgend, unbedingt sehen wollte. Bei einigen wurde ich enttäuscht, weil sie entweder auch die Aufsicht führenden Damen in den einzelnen Sälen gar nicht kannten (immerhin enthält die Sammlung der Tretjakow-Galerie inzwischen weit über 100.000 Gemälde), oder mir – im Fall eines Bildes von Lewitan – versicherten, sie wüssten auch nicht, warum es nicht aus dem Depot geholt und ausgestellt würde, schließlich fragten Besucher immer wieder danach.

 
Die Antwort, die ich jedoch am häufigsten hörte, wenn ich ein Bild nicht finden konnte, lautete: „Das finden Sie am Krymski wal.“ An dieser Stelle muss gesagt werden, dass „Krymski wal 10“ die Adresse eines anderen Gebäudes der Tretjakow-Galerie ist. Es wurde im Jahre 1985 für die Galerie angeschafft und war danach zehn Jahre lang das einzige Ausstellungsgebäude, da dasjenige, das man von sämtlichen Postkarten und Bildbänden her kennt, aufwändig rekonstruiert wurde. Als es 1995 wiedereröffnet wurde, kam die Sammlung der modernen Bilder in dieses Gebäude, das nun im Volksmund die „Neue Tretjakow-Galerie“ genannt wird.

 
Ist man also auf der Suche nach Petrow-Wodkin, Chagall und Kandinsky, ist man dort im wahrsten Sinne des Wortes an der richtigen Adresse. (Auch hier empfiehlt sich der Audioguide, und wenn man diesen Teil der Galerie an einem Mittwoch besucht, ist die Leihgebühr dafür sogar die einzige „Investition“, die man tätigen muss, denn mittwochs ist der Eintritt frei.)

 
In diesem Gebäude ist neben den bereits erwähnten Künstlern auch die gesamte Kunst der Sowjetzeit vertreten, und daher befinden sich dort in schönster Eintracht mit dem berühmten Bild „Lenin im Smolny“ von Isaak Brodski Porträts bis heute so bekannter Größen des kulturellen Lebens wie Wsewolod Meyerhold, Sergei Prokofjew und Maxim Gorki.

Mir ist es letztendlich gelungen, fast alle in dem Lied erwähnten Bilder aufzuspüren, und jede Minute der vielen Stunden, die ich in beiden Gebäuden verbracht habe, hat sich mehr als gelohnt. Die Fülle der neuen Eindrücke war so überwältigend, dass sich ganz zum Schluss ein Gefühl einstellte, dass ich so bis dato nicht gekannt hatte – es war eine Art Sättigungsgefühl, der Verdacht, dass nun keine weitere Erinnerung in meinem Gehirn Platz finden konnte, weil ich all das, was ich gesehen hatte, erst einmal verarbeiten musste. Da ich das neue Gebäude aber an meinem letzten Tag in Moskau besucht hatte, war das auch überhaupt nicht schlimm und ich konnte anschließend alles ganz in Ruhe nachwirken lassen.

(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Moskauer Kaleidoskop“ im ostbooks Verlag erschienenen Reiseskizze.)

 
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