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Reisen
 April 1999

Begegnungen im Drei-Länder-Eck

Nach einigen mehr oder weniger offiziellen Begegnungen und Unterredungen, die den Kern dieser dienstlich geprägten Reise  darstellten, haben wir den letzten Tag unseres Aufenthaltes, einen Samstag, für einen kleinen Ausflug in die nächstgrößere Stadt, nach Mosyr, genutzt. Wie das gesamte Gebiet an der Grenze zwischen Weißrussland, Russland und der Ukraine, in dem wir uns in den letzten drei Tagen aufgehalten haben, befindet sich diese Stadt in der unmittelbar durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl betroffenen Zone, denn die Entfernung dorthin beträgt gerade einmal 80 Kilometer Luftlinie.

Mosyr zieht sich auf einer Anhöhe kilometerweit am Ufer des Flusses Pripez entlang und ist mit seiner hügeligen Umgebung als die „Weißrussische Schweiz“ bekannt. Doch auch an dieser Landschaft sind die katastrophalen Überschwemmungen dieses Frühjahrs nicht spurlos vorübergegangen. Hier standen ebenfalls ganze Gebiete unter Wasser und erinnerten mich stark an die im Winter gefluteten Oderwiesen nahe der deutsch-polnischen Grenze. Im Unterschied zu Mosyr ist es dort jedoch ein gewollter Effekt, während hier auch Häuser meterhoch im Wasser standen. Die Stadt selbst, die davon durch ihre erhöhte Lage nicht unmittelbar betroffen ist, bietet dem Besucher ein geradezu klassisches Nebeneinander verschiedener architektonischer Epochen, wie wir es sowohl in Kalinkowitschi als auch bei der Durchreise durch Städte wie Bobruisk gesehen haben: Neben sehr modernen Plattenbauten, die teilweise ein durchaus ansprechendes Äußeres aufweisen, existieren in all diesen Orten noch ganze Siedlungen, die aus alten Holzhäusern bestehen und den bescheidenen Charme vergangener Jahrhunderte bis in die Gegenwart tragen.

Im alten Stadtteil von Mosyr zeigten uns unsere weißrussischen Begleiter eine katholische Kirche, was im überwiegend orthodox geprägten Weißrussland eher eine Seltenheit ist. Da an diesem Tag in einem Nebengebäude der Kirche eine Synodalversammlung katholischer Priester stattfand, trafen wir hier auch einen Zisterzienserpriester, der vor vier Jahren aus Österreich in diese Gegend gekommen ist und nun fünf Pfarreien gleichzeitig betreut. Angefangen hatte für ihn alles mit einer Marienvision und einem verstorbenen Priesterkollegen, der ihm im Traum erschienen war und ihm gesagt hatte: „Du musst nach Osten gehen.“ Daraufhin hat sich der Pater auf den Weg nach Weißrussland gemacht. Dass diese Gegend besonders problematisch ist, liegt sicher nicht nur daran, dass sich die katholische Kirche hier de facto in der Diaspora befindet. Die wirklich erdrückenden Schwierigkeiten resultieren vor allem aus den allgegenwärtigen katastrophalen Folgen der Strahlenbelastung, und es ist nicht verwunderlich, dass es einem sogar als völlig Außenstehendem einen Stich versetzt, wenn der Pater erzählt, dass in der letzten Zeit sechs seiner Kollegen sehr plötzlich gestorben sind, weil die ständig vorhandene Radioaktivität ihre Körper zerstört hatte. Das Leuchten verschwand aus den Augen des Priesters bei seiner Bemerkung, dass er bisher eigentlich Glück gehabt habe, weil ihm nur die Zähne ausgefallen seien. Außerdem sagte er, er versuche zumindest alle vier Wochen für ein paar Tage in ein weniger belastetes Gebiet zu fahren. Sehr irdisch-weltliche Züge nahm sein Gesicht wieder an, als er uns freudestrahlend erzählte, dass er gerade ein Auto bekommen habe: „Wissen Sie, einen TDI 140 – einen Turbodiesel!“ Nach diesem relativ kurzen Gespräch zeigte er uns noch die Kirche und erzählte uns von seinen weißrussisch-russischen zweisprachigen Gottesdiensten. Alles in allem war das eine der faszinierendsten Zufallsbegegnungen, die diese Reise für uns bereithielt.

In Mosyr hatten wir noch ein wenig Zeit, uns in Geschäften umzusehen. Bei solchen Gelegenheiten kann man in vielerlei Hinsicht Überlegungen zur Situation in einem Land anstellen. Zumeist ist man dabei auf sich allein gestellt. Mir bot sich jedoch eine der wenigen Möglichkeiten, bei denen man regelrecht mit der Nase auf bestimmte Dinge gestoßen wird, weil sie einem explizit erzählt werden. Diese Gelegenheit ergab sich allerdings von mir ursprünglich ungewollt.

Die Vorgeschichte dieses Unwillens ist schon acht Jahre alt und stammt aus der Zeit, als wir DDR-Bürger in der damaligen Sowjetunion durch die Währungsunion von einem Tag zum anderen zumindest finanziell die Seiten wechselten von „welche von uns“ zu „ihr aus dem Westen“. Seit damals beschleicht mich jedes Mal ein unangenehmes Gefühl, wenn ich in Russland, Bulgarien oder anderswo in einem Geschäft eine für uns völlig normale Geldsumme ausgebe, die aber weit über den üblichen Verhältnissen des jeweiligen Landes liegt.

Irgendwie verspüre ich in diesen Situationen ein unwahrscheinliches Erklärungsbedürfnis, gepaart mit einem schlechten Gewissen den Verkäuferinnen gegenüber, denen es mit Sicherheit wirtschaftlich schlechter geht als mir. Am häufigsten, so wie auch dieses Mal, passiert mir das in Buchhandlungen, weil sie immer mein erster Anlaufpunkt sind. Genauso war es auch in Mosyr, wo ich mich wieder einmal auf die Suche nach aktuellen Wörterbüchern begeben habe, die in Deutschland, wenn man sie überhaupt zu kaufen bekommt, wesentlich teurer wären. So kam es, dass ich in diesem Laden etwa 65,- DM ausgab.

Für einen in Deutschland lebenden Normalverdiener ist das wirklich keine große Summe, wohingegen es sich mit dem weißrussischen Äquivalent dazu völlig anders verhält. Hier handelte es sich um den stolzen Betrag von 10,5 Millionen weißrussischen Rubeln, woraufhin eine der Verkäuferinnen ausrief: „Meine Güte, das sind ja drei Monatsgehälter von mir!“ Derartige Äußerungen tun dann auch immer das Ihre, um meine Gewissensbisse noch zu verstärken. Schließlich arbeiten diese Frauen sicher nicht weniger als ich; nur habe ich das Glück, dafür besser bezahlt zu werden.

So fing ich also wieder an, meine endlos langen Erklärungen über die anderen Einkommensverhältnisse bei uns abzugeben und darüber, dass bei uns ohnehin ein völlig anderes Preisgefüge herrscht, und bedankte mich für die nette Bedienung. Die Antwort darauf hat mich einerseits verblüfft und andererseits in meiner eigenen Lebensgeschichte um etwa zehn Jahre zurückversetzt: „Sie haben uns ja auch sehr geholfen. Wir müssen doch unseren Umsatzplan erfüllen, und jetzt vor Ostern haben die Leute ganz andere Sorgen, als Bücher zu kaufen.“

In diesem Moment war ich regelrecht erschrocken, wie schnell man auch das vergisst, was jahre- oder jahrzehntelang ein vielleicht auch nur mittelbarer Teil des eigenen Lebens war. Schließlich gab es in der DDR nicht eine Nachrichtensendung ohne die recht nervtötenden Auskünfte über die aktuelle Planerfüllung bestimmter Branchen oder Betriebe. Bei den Damen aus dem Buchladen in Mosyr kam noch erschwerend hinzu, dass sie nur, wenn der Umsatzplan erfüllt wird, ihr Gehalt ausgezahlt bekommen, weil ansonsten dafür einfach das Geld fehlt. Insofern habe ich dieses Geschäft dann doch ein bisschen mit der Hoffnung verlassen, dass nicht nur ich allein von meinem Einkauf profitiert habe.

Nach einem ausgedehnten Spaziergang durch die Stadt kehrten wir am Abend wieder zu unseren Gastgebern zurück, um am nächsten Morgen Weißrussland für dieses Mal wieder zu verlassen - dass es nicht unsere letzte Begegnung mit diesem Land sein würde, dessen waren wir uns sicher.

 
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