Ein bisschen Disneyland ist dabei
London im Herbst - diese
Kombination lässt einen eigentlich gleich an Nieselregen und Schmuddelwetter
denken, doch weit gefehlt! Petrus meinte es gut mit uns und schickte uns
strahlenden Sonnenschein, als wir am ersten Tag unseres Aufenthaltes den Tower
of London erkunden wollten. Dass diese Idee außer uns noch viele andere
Touristen haben würden, lag auf der Hand, aber dennoch war die
Top-Sehenswürdigkeit der Stadt nicht so überlaufen, wie wir es befürchtet
hatten. Ob es an den nicht ganz erschwinglichen Eintrittspreisen oder an der
Tatsache lag, dass London auch sonst noch viel Sehenswertes zu bieten hat,
lässt sich nicht sagen, aber immerhin konnte man sich auf dem gesamten Gelände
dieser „Stadt in der Stadt“ frei bewegen und musste nur an einigen Punkten
Schlange stehen.
Die Wartezeit, bis wir zu den
berühmten Kronjuwelen im Juwel House kamen, wurde uns aber dennoch nicht lang,
denn es wurde überall etwas geboten, sodass keine Langeweile aufkommen konnte.
Mit Fortschreiten der Schlange kam man immer wieder an Informationstafeln
vorbei, die in Wort und Bild sehr einprägsam die Geschichte der Kronjuwelen
erzählen: von der Zerstörung der Kronjuwelen auf Anordnung des Parlaments 1649,
einer Dame, die 1815 die Staatskrone aufprobierte und dabei erheblich
beschädigte, sodass das Siebenfache des Monatssalärs eines Soldaten aufgewendet
werden musste, um sie zu reparieren, und der Feuersbrunst von 1841, bei der es
gelang, die Juwelen rechtzeitig aus dem Gebäude zu bringen. Gleichzeitig wird
darauf hingewiesen, dass die Soldaten, die im Tower of London stationiert sind,
die Kronjuwelen für die Monarchin bewachen und daher mit Respekt zu behandeln
sind. Bei diesem Schild habe ich mich insgeheim gefragt, was wohl der Auslöser
dafür gewesen sein könnte, es aufzustellen. Ich kam jedoch nicht dazu, längere
Überlegungen anzustellen, weil gegenüber, am White Tower, der Rüstkammer des
Tower, bereits ein Herr in historischem Ornat die Aufmerksamkeit der Wartenden
und Vorübergehenden auf sich zog: Er verkündete einer Besuchergruppe mit fester
Stimme von einem Balkon herab, sie hätten sich eines Fehlverhaltens schuldig
gemacht und würden nun zum Vergnügen Ihrer Majestät eingesperrt. Das war die
„Imprisonment and execution“-Tour, die im Tower ebenfalls angeboten wird, um
seiner historischen Rolle als Gefängnis Rechnung zu tragen.
Allerdings sollten wir dieses
Unterhaltungsprogramm zunächst einmal nicht lange genießen, denn schon waren
wir an der Reihe, die „heiligen Hallen“ des Jewel House zu betreten. Obwohl ich
bereits einige königliche Schatzkammern gesehen habe, war diese von der Art der
Präsentation für mich etwas völlig Neues. Im Gegensatz zum Grünen Gewölbe in
Dresden oder auch der Rüstkammer in Moskau gelangt man hier nicht gleich in die
Ausstellungsräume, sondern wird durch viele Vorräume geleitet, sodass die
Zeitangabe „Noch 5 Minuten bis zu den Kronjuwelen“, die einem, wenn man noch in
der Schlange vor dem Haus steht, auf einem Schild anzeigt, dass man gleich da
ist, doch ziemlich geschönt ist. Es geht nämlich noch durch viele Säle weiter,
bis man endlich ins Allerheiligste darf, um einmal bei dem Bild von den
heiligen Hallen zu bleiben. Auch hier ist man jedoch nicht auf sich gestellt,
sondern erfährt anhand von Wandprojektionen und Schautafeln noch Weiteres über
die Kronjuwelen und die Geschichte der Könige.
Hat man den Saal mit den Vitrinen
endlich erreicht, löst sich die Besucherschlange nicht etwa, wie man es sonst
von Museen kennt, auf, sondern wird über ein elektrisches Laufband an den
Kronjuwelen vorbeigeführt. Da die Vitrinen in der Mitte des Raumes stehen und
sich zu beiden Seiten Laufbänder befinden, kann man auch selbst zurücklaufen
und dann alles noch einmal von der anderen Seite betrachten. So sieht man
sowohl die Kronen der englischen Könige und Königinnen, wie zum Beispiel die
Witwenkrone von Königin Victoria, aber auch eine besonders prächtige für den Kaiser
von Indien. Dieser war eigentlich in Personalunion der englische König, aber da
die Regalien das eigene Land nicht verlassen dürfen, musste für Indien eine
neue Krone her.
Natürlich sind auch alle anderen
Insignien der Macht vertreten: Zepter, Reichsäpfel und sogar Krönungslöffel,
und auch die in solchen Museen obligatorischen Tafelutensilien dürfen nicht
fehlen. Besonders beeindruckend ist dabei die Große Punsch-Schale, die immerhin
ein Fassungsvermögen von 144 Flaschen Wein hat. Sie ist über einen Meter breit
und wiegt stattliche 248 Kilogramm.
Der absolute Höhepunkt der
kleinen, aber feinen Ausstellung (wer hier ein opulentes Museum mit unzähligen
Exponaten in jedem Raum erwartet, könnte vielleicht enttäuscht werden) sind die
berühmten Edelsteine, die man zwar sicher dem Namen nach kennt, aber nur hier
bestaunen kann: der Diamant Koh-i-Nûr, der Rubin des Schwarzen Prinzen,
verschiedene Saphire und natürlich weitere Diamanten, die so bedeutend sind,
dass sie ebenfalls eigene Namen haben. Sie sind sicher auch für viele Besucher
der Grund, ins Jewel House und vielleicht sogar in den Tower überhaupt zu gehen.
Nach der Wachablösung der
königlichen Garde trafen wir noch auf Elisabeth I., die
das Treiben im Tower huldvoll von einem Balkon aus beobachtete, und auf eine
Kammerzofe, die Queen Anne gedient hatte und nun in breitem Londoner Dialekt
von ihren Erlebnissen berichtete. Viele Besucher lauschten andächtig, und bei
diesem Anblick und der Erinnerung an die Gefängnistour, die wir am Beginn
unseres Besuchs beobachtet hatten, wurde uns klar, dass ein Hauch von
Disneyland auch über diesen altehrwürdigen Gemäuern schwebt, was ihrer
Attraktivität jedoch keinen Abbruch tut.
Wenn man nur zwei Tage in London verbringt,
ist es natürlich kaum möglich, sich alle Ausstellungsräume des Towers
anzusehen. So nehmen wir also außer vielen tollen Eindrücken, wie so oft auf
unseren Reisen, auch die Erkenntnis mit nach Hause, dass dies bestimmt nicht
unser letzter Besuch dort war, weil es auch beim nächsten Mal noch vieles zu
entdecken gibt.