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Frankreich
 
Die Stadt mit den 1000 Gesichtern

 
In einer so alten Stadt wie Straßburg lohnt sich ein ausgiebiger Spaziergang besonders, denn hier ist jedes einzelne Haus ein absolutes Unikat, und die Baumeister der vergangenen Jahrhunderte haben alles daran gesetzt, jedem Gebäude ein eigenes Gesicht zu geben. Was hier zunächst klingt wie eine bildhafte Umschreibung der Einzigartigkeit, ist jedoch in vielen Fällen durchaus sehr wörtlich zu verstehen: An vielen Fassaden findet man tatsächlich Gesichter - von Menschen, Tieren und Fabelwesen, in Stein gehauen, gemalt oder aus Holz geschnitzt.

 
Prominentestes Beispiel dieser Vielfalt ist das Liebfrauenmünster selbst - mit über tausend Figuren allein an den Außenfassaden würde es schon für sich genommen die Überschrift rechtfertigen. Mir persönliche gefällt mir dabei die Darstellung des biblischen Gleichnisses von Jesus und den klugen Jungfrauen im Gegensatz zum Verführer mit den törichten Jungfrauen am besten, weil ich finden, dass man selbst in diesen alten Skulpturen den törichten Damen schon an ihrem Gesichtsausdruck ansieht, dass sie nicht die hellsten sind. Auch im Inneren der Kathedrale kann man außer den üblichen religiösen Darstellungen noch andere Skulpturen entdecken - sei es der stille Beobachter auf der Sängergalerie oder ein kleiner schlafender Hund am Fuß der Kanzel.

 
Auch das in direkter Nachbarschaft gelegene Haus Kammerzell, bekanntestes Profangebäude der Stadt und spätgotisches Fachwerkhaus, wie es im Buche steht, hat neben Engelsfiguren mit Harfe und anderen Instrumenten beispielsweise auch Darstellungen von König Artus und vielen anderen zu bieten.

 
Selbst Gebäude, deren Zweckbestimmung man zunächst nicht unbedingt mit reichhaltigem Fassadenschmuck in Verbindung bringt, wie das Haus der Industrie- und Handelskammer laden hier dazu ein, sie genauer anzusehen, weil sich hier und da am Sims oder neben dem Portal ein Relief findet, bei dem es sich lohnt, die Überlegung anzustellen, ob es sich bei dem oder der Dargestellten um eine reale Persönlichkeit der Geschichte wie die vielen Komponisten klassischer Musik auf den Medaillons an der Aubette am Place Kleber oder um ein fiktives Gesicht handelt wie eine Reihe von Darstellungen über den Fenstern eines Justizgebäudes, bei denen die Haare aus so exotischen Dingen wie Pfauenfedern, Blitzen oder einfach Eichenlaub bestehen.

 
Exotisch sind mitunter übrigens auch die dargestellten Personen selbst - angefangen vom afrikanischen Vertreter der Heiligen Drei Könige am Laurentiusportal des Münsters bis hin zu Gesichtern, die ebenfalls afrikanische Züge aufweisen und als Fassadenschmuck an den Gebäuden der Altstadt dienen.

 
Wo immer man Grenzen ziehen möchte - in der Geographie, zwischen Menschen und Tierwelt, zwischen Realität und Fiktion - der Straßburger Fassadenschmuck setzt sich darüber hinweg und bietet dem, der sich dafür interessiert und mit offenen Augen durch die Stadt geht, immer wieder neue Überraschungen, und auch, wenn man meint, die wichtigsten Gebäude schon lange und gut zu kennen - kaum biegt man in die nächste kleinere Querstraße ein, wird man zu seinem eigenen Erstaunen sicher wieder etwas Neues entdecken.

 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
 
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