50 Jahre sind drei Leben
Für einen Menschen mag diese
These seltsam klingen, für ein Museum ist sie es weit weniger. Das Museum, von
dem hier die Rede sein soll, hat mich, obwohl es zu Unrecht ein Schattendasein
am Rand der überbordenden Berliner Museenlandschaft fristet, schon fast mein
ganzes Leben lang begleitet, sodass ich sagen kann, dass mir jedes seiner drei
Leben vertraut ist. Selbst sein Name hat sich in der Zwischenzeit verändert. Davon
jedoch später mehr, denn diese Veränderung markierte die Schwelle von seinem ersten
zum zweiten Leben.
Gegründet wurde das Museum 1967
mitten in Berlin-Karlshorst, in einem Gebäude, das zu diesem Zeitpunkt bereits
zwei eigene Leben hinter sich hatte: als Offizierskasino einer Pionierschule
der Wehrmacht und nach dem Krieg als Sitz des Chefs der Sowjetischen
Militäradministration in Deutschland, der Sowjetischen Kontrollkommission und
des sowjetischen Hohen Kommissars. Doch nicht diese Nutzungsarten führten dazu,
dass das Gebäude schließlich ein Museum wurde. Diese Tatsache hat es dem
Umstand zu verdanken, dass genau hier in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 die
bedingungslose Kapitulation von den Oberbefehlshabern der einzelnen
Teilstreitkräfte der Wehrmacht unterzeichnet wurde.
In diesem nach außen hin eher
schmucklosen Gebäude wurde also das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa
besiegelt, und deshalb entstand hier, nachdem die Nutzung als
Verwaltungsgebäude aufgegeben worden war, das Museum der bedingungslosen
Kapitulation des faschistischen Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg. Es
war ein sowjetisches Museum auf deutschem Boden, und da die sowjetische
Garnison ohnehin das Karlshorster Stadtbild bestimmte, fiel es uns, die wir in
diese Situation hineingeboren waren, nicht einmal besonders auf. Sicher, da
waren russische Inschriften, aber auch das war zur damaligen Zeit keine
Seltenheit in diesem Teil Berlins.
Ich kann mich jedenfalls noch gut
daran erinnern, dass wir immer wieder zu organisierten Freundschaftstreffen mit
sowjetischen Kindern und Jugendlichen aus der benachbarten Garnisonsschule oder
auch zu Führungen, Filmvorführungen und ähnlichen Veranstaltungen in das Museum
kamen. Die Karlshorster nannten es kurz „Kapitulationsmuseum“, und jeder
wusste, was damit gemeint war und welchen historischen Hintergrund dieser Ort
hatte.
Die Prunkstücke der Ausstellung
waren der Kapitulationssaal, an dessen Wänden heute noch große Marmortafeln an
alle sowjetischen Armeen und Divisionen erinnern, die an der Schlacht um Berlin
beteiligt waren, und in dem auf einem großen Bildschirm in einer Endlosschleife
Filmaufnahmen von der Unterzeichnnung der Kapitulationsurkunde zu sehen sind, das
Arbeitszimmer von Marschall Schukow, dem ersten Chef der SMAD, und das Diorama
„Die Einnahme des Reichstags“. Dioramen sind in den Ländern der ehemaligen
Sowjetunion eine recht verbreitete Art der Geschichtsdarstellung, denn sie
vermitteln mit künstlerischen Mitteln einen dreidimensionalen Eindruck des
Geschehens - unmittelbarer, als es Fotos und andere Bilder könnten.
Auch das ist wieder ein Beweis
für das bereits erwähnte Schattendasein: In der Schirn Kunsthalle Frankfurt
läuft derzeit eine Ausstellung über Dioramen in den verschiedenen
Erscheinungsformen. Allerdings wurde in den Beiträgen, die darüber im Radio zu
hören waren, nur auf naturkundliche und anthropologische Schaukästen
eingegangen. Kein Wort über die historischen Darstellungen, die in Russland ein
wesentlicher Teil der Erinnerungskultur sind. Zumindest ein Beispiel dafür
hätte man sogar im eigenen Land finden können.
All das war jedoch damals viel
weniger für interessierte DDR-Bürger gedacht als für Soldaten der Gruppe der
sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, die an diesem Ort des Heldenmutes
ihrer Väter gedachten und die Traditionen ihrer Armee hochhielten.
Doch dann kam die Wende und mit
ihr das Abkommen über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland. Was
sollte nun aus dem Museum werden? Erst viele Jahre später ist mir klargeworden,
dass sein erstes Leben durchaus auch das einzige hätte bleiben können. Pläne,
das Museum sterben zu lassen, gab es durchaus. Der skurrilste von ihnen war
wohl, dass sich einige Herren mit zweifelhaftem geschäftlichen Hintergrund
schon ausgemalt hatten, das ehemalige Offizierskasino nun zu einem Spielcasino
umzufunktionieren. In den Kapitulationssaal wollte man vier Roulettetische
stellen, und dem letzten sowjetischen Direktor wurde eine nicht unerhebliche
Summe dafür geboten, das Gebäude möglichst schnell zu räumen. Als er diese
Geschichte kürzlich bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion anlässlich des
50-jährigen Bestehens des Museums erzählte, wurde mir erst richtig bewusst, wie
sehr die Existenz dieser Einrichtung auf Messers Schneide gestanden hatte.
Zum Glück war dieser Direktor
außerordentlich integer und mehr am Erhalt des historischen Ortes als an Geld
dubioser Provinienz interessiert. So verhalf er dem Museum erst einmal zum
Überleben. Der weitere Prozess dauerte dann mehrere Jahre, doch das Ergebnis
konnte sich auch damals schon sehen lassen. Was in offensichtlich mühevoller
Arbeit und mit einer gehörigen Portion Enthusiasmus der Beteiligten entstand,
war tatsächlich etwas Einzigartiges: das Deutsch-Russische Museum
Berlin-Karlshorst.
Dieser Name ist zwar auch noch
nicht der kürzesten einer, aber dafür deutlich griffiger als sein Vorgänger,
und er sagt mehr aus, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Dieses
Museum ist tatsächlich eine Einrichtung beider Länder und damit das weltweit
einzige, in dem ehemalige Kriegsgegner gemeinsam die Geschichte eines Krieges, des
Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, darstellen. 1995 wurde die erste
gemeinsame Dauerausstellung eröffnet, die immer wieder durch die
verschiedensten Wechselausstellungen ergänzt wurde.
Inzwischen zieht das Haus mit der
dritten Dauerausstellung seiner Geschichte die Besucher an. Die vorherige war
ein wenig in die Jahre gekommen, und seit 2013 ist nun wieder alles auf dem
neuesten Stand und kann auch von der Gestaltung her durchaus mit anderen modernen
Museen mithalten. Die Sonderausstellungen sind immer noch stets neue Besuche in
dem alten Gemäuer wert: Wo sonst kann man beispielsweise blattvergoldete
Porträtfotos russischer Persönlichkeiten oder aber Dokumente aus den drei Leben
eines Museums sehen?
Auch die übrigen Veranstaltungen
gehen weit über das hinaus, was man von einem eigentlich eher kleinen Museum
erwarten würde: Ausstellungseröffnungen werden mit Podiumsdiskussionen
verbunden, die auch „Alteingesessenen“ immer wieder neue Aspekte der Geschichte
des Gebäudes und des Stadtbezirks näherbringen, und bei den traditionellen
Museumsfesten am 8. Mai treffe ich jedes Jahr Bekannte, die bei Weitem nicht
immer nur zur Russland-affinen Community gehören.
Das Museumsfest ist gerade in den
letzten Jahren, in denen durch die politische Großwetterlage alles ein wenig
schwieriger geworden ist, immer wieder eine gute Möglichkeit, in die russische
Kultur einzutauchen - ob bei den Filmvorführungen oder den musikalischen
Darbietungen, zu denen, wenn man Glück hat, sogar Solisten des berühmten
Alexandrow-Ensembles anreisen. Dass sich viele Besucher außerdem für die
Militärtechnik interessieren, die im Park des Museums ausgestellt und an diesem
Tag zugänglich ist, wird sicher auch niemanden verwundern.
So hat es also bis in die Neuzeit
überlebt. Vor dem Eingang hängen vier Fahnen: die russische, die weißrussische,
die ukrainische und die deutsche. Sie symbolisieren die Länder, deren
Geschichte von dem Krieg geprägt wurde, dem das Museum gewidmet ist, und die
heute als Partner dem Vergessen entgegenwirken. Dass das nicht immer einfach
ist, wird auch in den Interviews deutlich, die der jetzige Direktor bisweilen
in Funk und Fernsehen gibt. Doch allein die Tatsache, dass das Museum als Ort
des Dialogs wahrgenommen wird und deshalb selbst in schwierigen Zeiten in den
Medien präsent ist, lässt mich hoffen, dass nun auch das dritte Leben nicht das
letzte ist und dass noch viele interessierte Besucher die Möglichkeit nutzen,
Einblicke in die Geschichte zu bekommen, wie es sie wirklich
nur in Karlshorst gibt.