- Literatur - Reiseblog

Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Bulgarien
 
Renaissance einmal anders
 

 
Hört man den Begriff Renaissance, denkt man in unseren Breiten gemeinhin an Michelangelo und die Sixtinische Kapelle, auf jeden Fall aber an das Italien des 15. Jahrhunderts mit Säulen und Statuen, mit Gemälden und Arkaden und jeder Menge Marmor.

 
Auch wenn in Bulgarien die Wandmalereien der bei Sofia gelegenen Kirche von Bojana aus dem 13. Jahrhundert als Vorläufer der italienischen Renaissance gelten, bekommt man, wenn man den Begriff „Renaissance“ in Bulgarien hört, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit etwas gänzlich anderes gezeigt, und zwar: Holzhäuser. Diese auf den ersten Blick augenfällige Diskrepanz löst sich allerdings auf, wenn man sich vergegenwärtigt, was der Begriff „Renaissance“ im ursprünglichen Wortsinn bedeutet: Wiedergeburt. Da beides im Bulgarischen mit demselben Terminus bezeichnet wird, kommt es häufig dazu, dass einem von einheimischen Reiseleitern auf Deutsch ein Phänomen als „Renaissance“ kredenzt wird, für das sich eigentlich auch in der deutschen Geschichtsschreibung ein anderer Name eingebürgert hat: die sogenannte Bulgarische Wiedergeburt.

 
Gemeint ist damit die Zeit vor 1878, als Bulgarien mithilfe der zaristischen russischen Armee nach fast 500 Jahren endlich von der türkischen Fremdherrschaft im Osmanischen Reich befreit wurde. Die offizielle Geschichtsschreibung datiert den Beginn der nationalen Wiedergeburt ins achtzehnte Jahrhundert, wobei die Meinungen darüber wohl auseinandergehen. Fest steht aber, dass die „Slawo-bulgarische Geschichte“, die der Mönch Paissij von Hilendar 1762 zu Papier brachte, mit ihren progressiven Gedanken noch heute vielen als der Beginn der bulgarischen Aufklärung gilt. Dieses nach Jahren der Unterdrückung wieder erstarkende Nationalbewusstsein der Bulgaren richtete sich zunächst gegen das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel, dem die sonst autokephale Bulgarisch-Orthodoxe Kirche im Osmanischen Reich unterstand. Erst im Nachhinein wandte es sich gegen die Türken, weitete sich aber im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Befreiungskampf der Bulgaren aus, der durch Revolutionäre wie Wassil Lewski, aber auch Intellektuelle und Dichter wie Christo Botew und Iwan Wasow angeführt wurde.

 
Gleichzeitig war diese Periode eine Blütezeit der bulgarischen Kunst in vielerlei Hinsicht. Selbst der nicht sonderlich kunstinteressierte Bulgarien-Tourist wird nicht umhin kommen, immer wieder auf den Begriff der Wiedergeburt zu stoßen, denn in wahrscheinlich jeder Altstadt im Land findet man die bereits erwähnten, für diese Epoche typischen Holzhäuser mit dem charakteristischen vorstehenden Obergeschoss. In einigen Dörfern und Städten sind diese Häuser mit ihrer Inneneinrichtung als Museum erhalten geblieben wie etwa in Scherawna und Kopriwschtiza. In Plovdiv steht die komplette Altstadt unter UNESCO-Schutz, was nicht nur auf das antike Amphitheater und das ebenfalls antike Stadion zurückzuführen ist, sondern in erster Linie darauf, dass dort ein komplettes architektonisches Ensemble mit Häusern aus der Zeit der Wiedergeburt erhalten geblieben ist.

 
Durch die verstärkten Unabhängigkeitsbestrebungen der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche war auch ein Erstarken des christlichen Lebens zu verzeichnen. Einen geradezu unvergleichlichen Aufschwung erlebte die Ikonenmalerei. So entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Schule von Samokow, der so berühmte Vertreter wie Sochari Sograf, Dimitar Sograf und Stanislaw Dospewski entstammten.

 
Sieht man sich berühmte Klöster und Kirchen in Bulgarien an, begegnen einem diese Namen immer wieder. Das bekannteste unter ihnen ist zweifellos das Rila-Kloster, das im gleichnamigen Gebirge südlich von Sofia gelegen ist. All das hat natürlich wenig mit der westeuropäischen Vorstellung von der Renaissance zu tun – stattdessen liefert es aber ein sehr genaues Abbild von einer Zeit, die für Bulgarien und für die Bulgaren außerordentlich wichtig war und deren Einfluss bis heute in vielen Bereichen sichtbar und spürbar ist.
 

 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
 
Copyright 2015. All rights reserved.
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü