Ein Schmelztiegel, wie er im Buche steht
Es soll eine der heißesten Städte
Europas sein, und hätten wir diesen Ausflug nur ein paar Tage früher
unternommen, hätten wir die wörtliche Bedeutung des Begriffs „Schmelztiegel“
sicher am eigenen Leib zu spüren bekommen. Ganz Europa stöhnte unter einer
Hitzewelle, und auch in Mostar war das Überschreiten der 40-Grad-Marke an der
Tagesordnung. Die geografische Lage in einer Senke inmitten der Dinariden,
eines verkarsteten Faltengebirges, das sich 600 Kilometer entlang des Ostufers
der Adria erstreckt, sorgt dafür, dass man nicht nur das „Schmelzen“, sondern
durchaus auch den „Tiegel“ wörtlich nehmen kann.
Einen kleinen Vorgeschmack
darauf, was hier alles miteinander
verschmilzt, bekommt man bereits, wenn man eine Reise nach Mostar plant. Immer
wieder wird auf die Kombination von Orient und Okzident verwiesen, und auch für
das Türkische Haus, eine der Sehenswürdigkeiten im Stadtzentrum wird auf einem
Hinweisschild mit den markigen Worten „Orient im Westen“ geworben. Da die Stadt
sowohl christlich als auch islamisch geprägt ist, ist diese Einordnung leicht
nachvollziehbar, und wer sich an die Nachrichten Mitte der 1990er-Jahre
erinnert, weiß, dass auch das einer der Hauptkonfliktpunkte des jugoslawischen
Bürgerkrieges in dieser Region war. Mostar hat damals traurige Berühmtheit
erlangt, als sämtliche Brücken über den Fluss Neretva gesprengt wurden, der den
christlich-kroatischen vom muslimisch-bosnischen Teil der Stadt trennt, unter
ihnen auch die Alte Brücke, die geradezu identitätsstiftend ist, denn Mostar
heißt übersetzt „Brückenwärter“. So wurde die Brücke, die zum Glück seit 2004
wiederaufgebaut ist, zum Symbol der Zerrissenheit der Stadt und des ganzen
Landes.
Inzwischen leben Christen und
Muslime in Mostar zum Glück wieder einträchtig zusammen, wovon unter anderem die
Tatsache zeugt, dass einem beim Gang durch die Altstadt sowohl Kirchtürme als
auch Minarette auffallen und sowohl das Kreuz als auch der Halbmond
allgegenwärtig sind. Manchmal sind es die kleinen Signale, die eine
gesellschaftliche Erscheinung deutlich machen. Für mich waren das in Mostar, so
widersinnig das beim Thema Zusammenleben
klingen mag, Todesanzeigen, wie sie in vielen Ländern des Balkans im
öffentlichen Raum zu sehen sind. In diesem Fall sahen wir sie an einem
Laternenpfahl unweit des ehemaligen Einkaufszentrums Razvitak, das im Krieg
zerstört und bis heute nicht wieder aufgebaut wurde. Bezeichnend war, dass es
an einem einzigen Laternenpfahl sechs verschiedene Todesanzeigen gab: drei mit
grüner Schrift und einem Halbmond in der Mitte des oberen Teils, zwei schwarze
mit einem Kreuz und eine ebenfalls schwarz gedruckte mit einer Rose in der
Mitte.
Auch die Natur der Herzegowina,
dem Landesteil, in dem sich Mostar befindet, ist außergewöhnlich. So unwirtlich
die kargen Berge wirken, so beneidenswert ist die Vegetation in den Tälern.
Alles, wofür man bei uns im Supermarkt jede Menge Geld bezahlen muss, wächst
hier buchstäblich am Straßenrand: Kakis, Granatäpfel, Kiwis, Feigen, Mandarinen
und, und, und. Ein Gang über den sommerlichen Markt von Mostar ist für jeden,
er gern Obst ist, die reinste Offenbarung.
Ein echter Hingucker sind dabei
übrigens die Stände, an denen Hobbyimker ihren Honig feilbieten. Hier habe ich
Honig in Farben gesehen, die ich nie für möglich gehalten hätte: Außer dem
goldgelben Honig, der bei uns gang und gäbe ist, gibt es hier
Farbschattierungen vom Dunkelbraun des Waldblütenhonigs über das leuchtende Rot
des Honigs aus Granatapfelblüten, der schmeckt wie unsere Zuckerstangen bis hin
zum Orange des Mandarinenblütenhonigs.
Abgesehen von den exotischen
Speisen ist dieser Markt ohnehin das positive Gegenstück zum Großen Basar der
Altstadt von Mostar. So legendär dieser auch sein mag, hat er doch den
Nachteil, dass im Prinzip die gesamte als Weltkulturerbe geschützte Altstadt
hinter den unvermeidlichen Souvenirgeschäften und –ständen verschwunden ist und
man die Schönheit der alten Gemäuer, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen,
hinter all den Schals, Kaffee- und Teeservices, Kühlschrankmagneten, Taschen
und Täschchen fast nicht mehr ausmachen kann.
Natürlich gehört zu einem Basar
immer Gewimmel, und auch in Mostar kann man das unterschiedlichste Publikum
sehen – von vollverschleierten Frauen bis hin zu Mädchen in Flip-Flops und
Spaghettiträger-Tops und Serviererinnen in einem Traditionsrestaurant, die
Pumphosen, Bolerowesten und Glitzerschuhe tragen –, ob das jedoch zulasten des
Gesamteindrucks von der Bausubstanz gehen muss, wage ich zu bezweifeln.
Immerhin gibt es im neueren Teil des Stadtzentrums ebenfalls eine
Geschäftsstraße, die dafür meines Erachtens wesentlich geeigneter wäre. Bezahlt
wird hier übrigens in Konvertibler Mark und Feningen (die wir aber nicht einmal
zu sehen bekommen haben), weil nach dem Jugoslawienkireg die Währung von
Bosnien-Herzegowina (wie auch andere, z. B. seinerzeit der bulgarische
Lew) an die D-Mark gekoppelt wurde. Heutzutage bietet das zumindest den Vorteil
eines stabilen Umtauschkurses zum Euro.
Dort ist mir noch etwas
aufgefallen, das ich in südlichen Gefilden so nicht erwartet hätte. Obwohl das
Leben in der Stadt bis spät in die Nacht hinein tobt, beginnen die
Geschäftszeiten der Läden bereits früh am Morgen, zwischen 7.30 und spätestens
9.00 Uhr, ohne dass es nachmittags eine Pause gäbe. Damit entfällt auch das
Argument, dass man der Mittagshitze ausweichen möchte und deshalb, wie etwa in
Spanien üblich, eine längere Siesta einschiebt. Was das Kulinarische betrifft,
mit dem man sich während einer Pause stärken könnte, gibt es auch dafür die
verschiedensten Angebote in der Stadt: von glutenfreiem Essen, das so bereits
auf Wegweisern beworben wird, über halal zubereitete Speisen bis hin zu
normalem Fast-Food und italienisch anmutendem Eis.
All diese Eindrücke, die ich hier
nur in Form von Schlaglichtern schildern konnte, haben den Aufenthalt in Mostar
und der Herzegowina zu einem bleibenden Erlebnis werden lassen, das für mich am
letzten Morgen von der Bestätigung einer jungen Verkäuferin gekrönt wurde, dass
nun wieder alle Ethnien der Stadt friedlich zusammenleben. Möge die Alte Brücke
diesen Schmelztiegel der Kulturen, Religionen, Geschmäcker und Traditionen nun
wieder im wahrsten Sinne des Wortes zusammenhalten wie ein Henkel seine in
diesem Land ebenfalls omnipräsenten kupfernen Namensvetter!