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Leseprobe
Die Fortsetzung der Märchen
Irgendwo im Märchenland, tief versteckt im Wald, gab es am Rande des Zwergendorfes einst ein Haus, das größer war als alle anderen in dieser Gegend. Doch das war nicht seine einzige Besonderheit. Wirklich einzigartig war sein Inneres, denn dieses Haus beherbergte die Bibliothek des Märchenlandes und damit das ganze Wissen, das sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte.

Der Hüter dieses Schatzes war Lector, ein nicht mehr junger Zwerg, dem die vielen Bücher nach all den Jahrhunderten, die er mit ihnen zu tun hatte, manchmal schon etwas zu schwer wurden, der sie aber dennoch hütete wie seinen Augapfel. Er hegte und pflegte sie, wischte sorgfältig den Staub von ihnen ab und achtete darauf, dass der Goldschnitt, mit dem einige der Bände an der Seite versehen waren, keinen Schaden nahm. Ein Leben ohne all die dicken Wälzer hätte sich Lector gar nicht mehr vorstellen können. Er liebte den Geruch von Papier und Tinte, und es gab für ihn nichts Schöneres, als sich nach getaner Arbeit in seinen großen Schaukelstuhl zu setzen und die Geschichten zu lesen, die ihm seit seiner Kindheit vertraut waren und immer noch so gut gefielen.

Eines Abends saß er wieder so in seiner Stube, als es plötzlich unüberhörbar an der Tür klopfte.
 
Nanu? Wer konnte das um diese Zeit noch sein? Lector erwartete eigentlich keinen Besucher mehr, denn jeder, der die Bibliothek benutzen wollte, wusste, dass sie nur tagsüber geöffnet war. Vielleicht brauchte jemand seine Hilfe? Lector schlurfte, erschöpft von dem langen Tag, zur Tür und öffnete. Vor ihm stand ein junger Kobold, der sich nicht unbedingt durch gute Manieren auszeichnete.

„Gibt's hier die Bücher?“, fragte er ohne Umschweife.
 
Lector sah ihn missbilligend an und überlegte, ob er ihm wegen dieser Unhöflichkeit die Tür nicht gleich wieder vor der Nase zuschlagen sollte. Doch er entschied sich dagegen.
 
„Guten Abend“, sagte er betont höflich und fuhr dann fort: „Ja, hier gibt es Bücher. Aber die Bibliothek hat schon geschlossen.“

„Das ist mir egal“, erklärte der Kobold. „Wenn ich schon einmal hier bin, kann ich mich ja auch umsehen“, und er drängelte sich an dem Zwerg vorbei ins Innere der Bibliothek. Lector ließ es zwar geschehen, schüttelte aber höchst unwillig den Kopf. Den Kobold störte das überhaupt nicht. Erst als er sich anschickte, Bereiche der Bibliothek zu betreten, die nicht für alle Leser bestimmt waren, griff Lector ein.
 
„Halt!“, rief er. „Kannst du nicht lesen?“ Und er zeigte auf die Schilder, die deutlich sichtbar über den einzelnen Regalen prangten: „Nur für Zwerge!“, „Nur für Feen!“ und „Nur für Magier!“

 
Nun, da der Zwerg ihm zum ersten Mal Einhalt gebot, stutzte der Kobold doch. Als er seine Fassung wiedergefunden hatte, fragte er:
 
„Was soll denn das heißen? Warum soll ich denn diese Bücher nicht sehen? Ich dachte, die Bibliothek ist für alle da.“

„Die Bibliothek ja“, erwiderte Lector. „Aber diese Regale sind das Archiv des Märchenlandes. Hier findet man zum Beispiel sehr wertvolle Aufzeichnungen darüber, was Generationen von Zwergen über Berge, Gesteine und deren Zusammensetzung herausgefunden haben. Niemand kann sich darin mit ihnen messen, denn das Wissen, das sie über viele Jahrhunderte zusammengetragen haben, hilft ihnen, zum Beispiel anhand von Pflanzen und Wasserquellen vorherzusagen, wo es sich lohnt, nach Edelsteinen zu graben. Die Feen finden hier Informationen darüber, wie sie die einzelnen Pflanzen pflegen müssen, damit sie gut über den Winter kommen, und wenn ein Magier einmal einen Zauberspruch vergessen hat, kommt er hierher und kann in den alten Zauberbüchern nachschlagen. Aber dieses Geheimwissen ist nur jenen zugänglich, die tagtäglich damit umgehen, ansonsten muss es vor Missbrauch geschützt werden. Deshalb steht auf den Schildern, wer zu diesen Büchern greifen darf und wer nicht.“

„Das ist ja eine komische Bibliothek“, maulte der Kobold. „Was kann ich denn dann lesen?“
 
„Die Märchenbücher“, antwortete Lector aufmunternd, doch der Kobold entgegnete verächtlich:
 
„Phhh, wie langweilig.“
 
„Was ist denn daran langweilig?“, wollte Lector wissen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er es nicht später bereuen würde, dass er sich auf eine Diskussion mit dem Kobold eingelassen hatte.
 
„Das ist doch immer wieder dasselbe“, meinte der Kobold. „Jeder im Märchenland kennt diese Geschichten schon in- und auswendig. Rotkäppchen, der Wolf und die Wackersteine, Dornröschen, die Hecke und der Prinz, Aschenbrödel, die Täubchen und der Ball - das ist doch alles nichts Neues mehr. Wie oft soll man das denn noch lesen?“
 
Lector dachte nach. Von dieser Seite hatte er das Ganze noch gar nicht betrachtet. Also fragte er den Kobold:
 
„Was würdest du denn gern lesen?“
 
Da musste der Kobold nicht lange überlegen. Wie aus der Pistole geschossen antwortete er:
 
„,Vor langer, langer Zeit' - so beginnen Märchen doch normalerweise. Wer fragt denn aber danach, was sich vor etwas weniger langer Zeit zugetragen hat? ,Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage' - so heißt es immer. Aber wie haben sie denn gelebt? Wer weiß denn, was aus Aschenbrödel, Rotkäppchen und all den anderen geworden ist? Es kann doch nicht sein, dass man von allen Märchenfiguren immer nur die eine Geschichte kennt und sich dann niemand mehr für sie interessiert. Ich will unbedingt erfahren, wie es mit ihnen weitergegangen ist, und ich hatte gehofft, in deiner Bibliothek etwas darüber zu finden. Nun bin ich sehr enttäuscht.“
 
Lector zuckte mit den Schultern.
 
„Das tut mir leid, aber damit wirst du wohl leben müssen“, sagte er und meinte, damit wäre das Gespräch beendet. Doch da hatte er sich getäuscht.
 
„Einen Kobold enttäuscht man nicht ungestraft“, erwiderte der ungebetene Gast, und dann setzte er hinzu: „Aber ich will mal nicht so sein. Eine Chance gebe ich dir noch. Entweder du findest heraus, was aus den wichtigsten Märchenfiguren geworden ist, oder ich werde, wenn ich wiederkomme, all die Bücher lesen, die du mir heute vorenthalten hast.“
 
Lector erschauderte vor Schreck.
 
„Aus dem Archiv?“, fragte er entsetzt.

Der Kobold nickte nur und war verschwunden. Lector aber blieb ratlos zurück. Was sollte er bloß tun? Das Geheimwissen des Märchenlandes durfte auf keinen Fall einem Kobold in die Hände fallen! Was, wenn dieser sich daran bereichern wollte? Nein, das durfte er nicht zulassen - koste es, was es wolle!
 
Nach einer schlaflosen Nacht rief Lector am nächsten Morgen die anderen Zwerge herbei, um ihnen mitzuteilen, dass er sich auf die Suche nach den Märchenfiguren begeben wollte. Um sie nicht zu beunruhigen, erwähnte er die Drohung des Kobolds jedoch mit keinem Wort.
 
Die anderen Zwerge schüttelten nur ungläubig den Kopf.

„Wozu willst du denn wissen, was die Märchenfiguren heute machen?“, fragten sie ihn zweifelnd. „Die Märchen von früher sind gut ausgegangen, das reicht doch. So muss es im Märchen sein.“
 
„Aber die alten Märchen kennen wir alle schon“, wandte Lector ein. „Habt ihr denn keine Lust, neue Geschichten zu lesen?“ […]
 
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